Interview mit Dr. Enright (I)

Vergebung als Chance

Vergebung gehört zu den zentralen Themen des zwischenmenschlichen Gesprächs und zu jenen Vorgängen, die das persönliche Leben, aber auch das Leben in Gesellschaft und Politik, massgeblich beeinflussen.
Vergebung

So genannte "Vergebungsstudien" entstehen heute im Bereich der Psychologie, der Pädagogik und der Soziologie. Dr. Robert Enright, Gründer des internationalen Instituts für Vergebungsforschung, erklärt dazu: "Wir finden jetzt mit wissenschaftlichen Methoden heraus, was wir seit Tausenden von Jahren hätten wissen können: Vergebung tut seelisch und körperlich gut."

Der Psychologe hat sein Institut 1994 gegründet und ist Herausgeber des 1988 erschienenen Buches "Exploring Forgiveness". Im Dezember 2005 wird sein deutschsprachiges Werk "Vergebung als Chance" veröffentlicht.

Herr Dr. Enright, wie wirksam ist die Vergebungstherapie tatsächlich?
Dr. Enright: Es gibt da ganz unterschiedliche Ergebnisse. Einige Untersuchungen erzielten ausgezeichnete wissenschaftliche Resultate, andere wiederum keine. Die unterschiedlichen Resultate ergeben sich unter anderem aus der Zeit und der Aufmerksamkeit, die der jeweilige Therapeut für seinen Patienten hat. Demjenigen zu verzeihen, der einem ein tiefes Unrecht zugefügt hat, braucht seine Zeit. Die Vermittler dieser Heilung bestehen häufig auf eine "kurze" Therapie, die dem Patienten nicht genügend Zeit gibt, den schmerzlichen und therapeutischen Weg der Vergebung zu gehen.

Eine unserer Untersuchungen basiert auf den Erlebnissen von Vergewaltigungsopfern durch Inzest, die überlebt haben. Diese tapferen Frauen benötigten lange Zeit, fast ein ganzes Jahr, um denjenigen zu vergeben, die sie missbraucht hatten. Aber die ganze Mühe hat sich gelohnt.

Als wir jene Menschen, die eine Therapie der Vergebung durchgemacht hatten, mit jenen verglichen, die keine gehabt hatten, stellten wir fest, dass die Anzahl der Angstzustände und Depressionen bei ersteren viel geringer war. Nachdem die Vergleichsgruppe schliesslich ebenfalls die Vergebungstherapie begonnen und abgeschlossen hatte, gab es bei beiden Gruppen eine bedeutende Verbesserung hinsichtlich der Symptome von Angst und Depressionen.

Auch wenn ein ganzes Jahr eine lange Zeit zu sein scheint, müssen wir uns einmal klarmachen, wie viele Frauen oft 20, ja sogar 30 Jahre lang an emotionalen Störungen leiden, bis sie endlich imstande sind, zu vergeben.

Ähnliche Resultate sehen wir auch bei anderen Gruppen: Bei Männer und Frauen in der Drogerehabilitation, bei Terminalpatienten mit Krebs, bei Ehepaare, die kurz vor der Scheidung stehen, bei jugendlichen Gefängnisinsassen, bei Herzpatienten und vielen anderen.

Auf welche Schritte muss sich ein Mensch einlassen, wenn er eine solche Therapie antreten möchte?
Dem eigenen Weg der Vergebung zu folgen, darin liegt ein weiterer Grund des grossen Erfolges dieser Form der Therapie. Dr. Fitzgibbons und ich bieten einen konkreten Weg der Vergebung an, den wir in unseren Untersuchungen wissenschaftlich begründen und der in meinem Buch "Forgiveness Is a Choice" ("Die Vergebung ist eine Wahl"), genau beschrieben wird.

Zunächst müssen die Leute, die diesen Weg gehen wollen, einsehen, dass sie ungerecht behandelt worden sind, dass ihnen diese Tatsache einen emotionalen Schlag versetzt hat und dass sie deswegen wirklich zornig sind. Wenn sie die Therapie der Vergebung antreten möchten, müssen sie erforschen, was Vergebung ist und was es nicht ist. Wenn Menschen einander vergeben, dann heisst das zum Beispiel nicht, dass sie das verharmlosen, entschuldigen oder vergessen, was man ihnen angetan hat. Sie können sich aussöhnen oder eben nicht. Zur Vergebung gehört vor allem, mit dem Grollen aufzuhören und sich demgegenüber, der sich ungerecht verhalten hat, mit Wohlwollen und vermehrter Liebe zuzuwenden. Und das ist eine Entscheidung, die man persönlich treffen muss, eine Tat des Willens.

Sich zu versöhnen heisst, dass zwei Menschen das Vertrauen zueinander neu zurückgewinnen. Damit das geschehen kann, müssen beide mitarbeiten. Und dabei gilt es zu bedenken, dass man einem Schuldigen vergeben und gleichzeitig den Rücken zukehren kann.

Dann empfehlen wir den Leuten, sich auf das einzulassen, was Doktor Fitzgibbons "kognitive Vergebung" nennt. Das sind klärende Gedanken der Vergebung, die sich auf jene Person beziehen, die ungerecht gewesen ist. In diesem Stadion braucht sich der Betroffene demjenigen, der ihn verletzt hat, noch nicht zu nähern aber kann aber diese kognitive Vergebung in seinem Inneren aussprechen.

Ein Teil der kognitiven Vergebung besteht darin, an den ganzen Menschen zu denken und nicht nur an seine Fehler und Sünden. Wir sind alle mehr als das, was wir tun. Wir sind verletzbar, aber auch Kinder Gottes. Die kognitive Vergebung folgt der emotionalen Vergebung: Man öffnet sich dem Mitleid und der Liebe zu diesem Kind Gottes, das einen verletzt hat. Das ist schwierig und kann seine Zeit dauern. Einige Menschen fühlen sich, solange die Therapie läuft, noch nicht bereit zu diesem Schritt, und wir müssen sie verstehen.

Für uns wird es immer ein Geheimnis bleiben, wie die Liebe im menschlichen Herzen zu jenen wächst, die ein grosses Unrecht getan haben und es vielleicht weiterhin tun. Sicher wirkt in diesem Fall die Gnade Gottes, aber wir Wissenschaftler verfügen nicht über die angemessene Sprache, um diesen Vorgang vollständig zu beschreiben. Die Wissenschaft ist – wie der menschliche Verstand – einfach zu begrenzt, um dieses Geheimnis zu verstehen.

Über die emotionale Vergebung hinaus geht die schwierige Aufgabe, den zugefügten Schmerz zu ertragen. Wer vergibt, kann die Uhr nicht zurückdrehen und den Schmerz ungeschehen machen, aber er kann die tapfere Entscheidung treffen, den Schmerz anzunehmen und ein Werkzeug der Güte für den Schuldigern zu sein.

Für einen Christen bedeutet das, mit Christ eins zu werden, der am Kreuz wegen unserer Sünden leidet. Er erträgt für uns den Schmerz. Wir werden für die anderen dasselbe tun, wenn wir uns als Menschen erfahren, denen vergeben worden ist.

Können Kinder besser vergeben als Erwachsene?
Es hat den Anschein, dass Kinder ein Herz besitzen, das offen ist für die Vergebung. Folglich besteht für sie tatsächlich die Möglichkeit, aus ganzem Herzen zu vergeben. Zugleich muss ich aber auch daran denken, dass die Kinder das Vergeben auch verlernen können, wenn sie von Erwachsenen umgeben sind, die diesen Zug lächerlich machen oder denen Vergebung gleichgültig ist. Deshalb ist die Erziehung zur Vergebung lebenswichtig.

Meine Kollegen Jeanette Knutson, Anthony Holter und ich haben an den Schulen im nordirischen Belfast gearbeitet und während der letzten drei Jahre verschiedene Kurse der Vergebung für die ersten drei Schulstufen der Grundschule angeboten. Wir bereiteten die Lehrer vor, die den Kindern die Inhalte weitergaben. Für Kinder haben wir ein Bilderbuch über Vergebung veröffentlicht. Es nennt sich "Rising Above the Storm Clouds" ("Über den Sturmwolken"), und ist für Kinder zwischen 4 und 10 Jahren gedacht. Wir haben entdeckt, dass die Kinder, die nur sechs Jahre alt sind, sehr viel über Vergebung lernen können und auf diese Weise übermässigen Zorn verringern.

In Belfast bringen wir einer Stadt, die vom Krieg umgeben ist, das Geschenk der Vergebung. Wir hoffen, dass die Kinder nach und nach lernen, zu verzeihen. Wir hoffen, dass sie, ausgerüstet mit diesem tiefen Verständnis für Vergebung, als Erwachsene zu einem echten Frieden in dieser Gesellschaft beitragen können.

Lesen Sie am Montag den 2. Teil zum Thema Vergebung: „Wenn wir vergeben, dann vollbringen wir eine Tat der Liebe“

Datum: 08.10.2005
Quelle: Zenit

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