55 Jahre – ein Versprechen

Das letzte Bild: Ruedi und Greti mit ihrer Tochter Maria nach einem Spaziergang Ende Februar

Als Ruedi und Greti heirateten, gings in den Flitterwochen nicht auf die Seychellen, auch nicht nach Venedig. Statt des Honeymoons gabs – einen Sonntagsspaziergang. Hand in Hand stiegen die beiden am Tag nach der Hochzeit, am Palmsonntag 1949, auf die Höhe bei Oberscherli. „Das war unsere Hochzeitsreise“, erinnert sich Greti.

Viele Optionen hatten sie nicht, der Bauernsohn von den Hügeln ob Bern und die Störschneiderin aus dem Emmental. Vor ihnen stand ein arbeitsreiches, mühevolles Leben auf Ruedis elterlichem Hof. Und doch fanden die Brautleute den Schlüssel zum Glück.

Einige Wochen vor der Hochzeit fragte er sie: „Ich möchte dir gern einen Wunsch erfüllen. Woran liegt dir besonders?“ Greti stammte aus einer Familie, wo der Vater am Morgen und wenn möglich auch am Abend Andacht hielt. Ruedi hatte einige Male daran teilgenommen. Die Braut überlegte und wusste bald: Die tägliche Andacht wünschte sie sich auch für ihre Ehe.

Ruedi bat um acht Tage Bedenkzeit. Als er am nächsten Sonntag wieder kam, gab er ihr froh das Versprechen. Und hielt es – über fast 55 Jahre. „Es war so schön, wenn wir nach dem Zmorge, das er mit Gebet begann, mit den Kindern noch am Tisch sassen. Er las den Kalenderzettel und sprach das Gebet aus dem Andachtsbuch, mit Dank und Fürbitte für die Obrigkeit.“

Am Abend beteten die Eheleute im Bett miteinander das Unser Vater. Sie wurden dadurch reich gesegnet: „Das sage ich mit dankbarem Herzen: Wenn wir nach dem Tag irgendeine Uneinigkeit hatten, war nach dem Unser Vater alles vergeben, und wir konnten am nächsten Morgen neu anfangen.“

Ruedi starb am 29. Februar im Alter von 86 Jahren. „Die Andacht hielt er bis zum letzten Morgen – und er war gewiss schitter (unsicher) auf den Beinen, als er zum Tisch kam.“

Die letzten Momente mit ihrem Mann stehen Greti vor Augen: „Ruedi lag auf dem Bett. Da sagte er: ‚Ich will nach draussen, noch ein Pfeifchen rauchen – und dann will ich heim.’ Was wollte ich sagen? Ich fragte nur: ‚U itze?’ Er stand auf und ging zur Tür. Doch er brachte den linken Fuss nicht mehr über die Schwelle. Nicht einen Zentimeter. Da sagte er: ‚Jetzt lass mich gehen. Ich will heim.’ Nach diesen Worten sank er in meinen Armen zu Boden.“

Datum: 11.03.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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