Hilfe, mein Kind ist hyperaktiv

Hyperaktive Kinder lassen sich nicht ruhigstellen. Da braucht es andere Lösungen.

Max war ein Wunschkind. Und zunächst auch problemlos: Er wollte nur alle drei bis vier Stunden gestillt werden. Im Prinzip war das schön - wenn er dabei nur nicht so einen Stress gemacht hätte. Mal wollte er meine Brust, dann wieder nicht, schliesslich schrie er wieder. Ich brauchte lange, um ihn zu beruhigen und zum Schlafen zu bringen. Aber das lag - so dachte ich - natürlich nur an mir, schliesslich war es mein erstes Kind und ich entsprechend unsicher.

So beruhigte ich mich und wurde von anderen beruhigt. Wer möchte schon als Versagerin dastehen? Ich würde ija wohl in der Lage sein, ein Kind zu erziehen. Solche Gedanken sprach ich zwar nicht aus, aber sie bestimmten meine verborgenen Vorstellungen.

Kein Hindernis zu gefährlich

Die Schwierigkeiten, Max zufrieden zu stellen, hielten trotzdem an. Aber ich bin nicht zimperlich, und beim ersten Kind hatte ich ja auch noch genug Zeit und Energie. Etwas nervös wurde ich dann allerdings, als mein süsser Sohn mit drei Monaten seinen ersten Wutanfall hatte. Häufig schrie Max das ganze Haus zusammen, und ich stand hilflos vor diesem Wutbündel. Sobald sich Klein-Max fortbewegen konnte, tat er es auch. Keine Treppe war für ihn zu steil, kein Klettergerüst zu hoch und kein Hindernis zu gefährlich.

Vier oder fünf Mal musste ich mit ihm in seinen ersten drei bis vier Lebensjahren ins Krankenhaus, um den Kopf röntgen zu lassen. Er hat stets eine ganze Armee von Schutzengeln beschäftigt und mich auf dem Weg ins Krankenhaus kräftig Stossgebete üben lassen. Auch dass er beim Essen sitzenbleibt, war undenkbar. Das war bei Max trotz aller Ermahnungen selbst mit fünf nicht drin. Aber ich hatte nun mal ein lebhaftes Kind, so beruhigte mich der Kinderarzt.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm - das war der „Trost“ von unseren Bekannten. Christliche Erziehungsbücher mied ich weitgehend. Denn nach ihren Leitlinien, nach denen Christen ja besonders gut erzogene Kinder haben sollten, machte ich fast alles falsch. Max wollte ständig beschäftigt werden, suchte ständig neue Reize. Seine Wutanfälle setzten sich fort - meist ohne Grund. Sie waren von einer Heftigkeit, die mich total fertigmachte. Manchmal dauerten sie eine halbe Stunde. Ob ich ihn beruhigte, ablenkte, ignorierte, anschrie, betete - es half nichts. Bei bis zu zehn Wutanfällen am Tag lagen meine Nerven und die meines Mannes bald blank.

Eine ordentliche Tracht Prügel?

Doch ich beruhigte mich wieder: Max kam nun mal ins Trotzalter. Das Standardrezept meiner Mitmenschen war klar und schlicht: Dem Kind fehlte eine ordentliche Tracht Prügel. Und ich gestehe: Die bekam er dann auch gelegentlich. Heute schäme ich mich dafür. Manchmal stand ich vor dem inzwischen zweijährigen Max und schüttelte ihn in hilfloser Wut. Der zehnte Wutanfall, die ständige Unzufriedenheit und die Anspannung, die von diesem Kind ausgingen, waren zu viel für mich.

Die anschliessenden Schuldgefühle allerdings auch. Seine Aggressionen richteten sich auch gegen andere Kinder. Ohne Vorwarnung und Hemmungen schlug er zu. Dieses Verhalten liess sich jedoch oft verhindern: Max war sehr schüchtern, brauchte fast zwei Stunden, bis er sich an Umgebung und Kinder gewöhnt hatte. Bis er richtig aufdrehte, war ich meist schon wieder dabei, mich auf den Heimweg zu machen.

So richtig anstrengend wurde es, als mein zweiter Sohn Paul geboren wurde. Max war drei Jahre alt und von einer Eifersucht auf seinen Bruder erfüllt, die es in sich hatte - trotz aller Gebete für eine friedliche Geschwisterbeziehung während meiner Schwangerschaft. Zwei schreiende Kinder - das war der Normalfall, wenn mein Mann morgens das Haus verliess. Die Unterschiede zwischen Paul und Max machten mich bald nachdenklich. Paul war ein zufriedenes, gelassenes Kind, konnte sich schon als Baby bis zu einer halben Stunde alleine beschäftigen. Aber das lag natürlich daran, dass ich beim zweiten Kind routinierter war. So suggerierten es mir jedenfalls meine Mitmenschen. Max liess sich durch diese Theorien leider nicht beeindrucken. Er hatte eine beachtliche Zerstörungswut entwickelt. Fast alle Spielsachen waren nach mehreren Wochen ruiniert, die Tapete in seinem Zimmer abgerissen.

Max war der Rowdy der Gruppe

Im Kindergarten dauerte es nicht lange, bis mich die Erzieherin meines Viereinhalbjährigen ansprach. Max war der Rowdy der Gruppe. Dieses hübsche, charmante und intelligente Kind schmiss mit Spielsachen um sich, schlug ständig die anderen. Nach solchen Gesprächen schlich ich weinend nach Hause. Gemeinsam mit der Erzieherin versuchten wir alles, um Max’ Verhalten zu begegnen. Erklärungen, verstärkte Zuwendung, Strafen, Ignorieren - alles half nichts. Erst jetzt beschlossen wir, dem Verdacht nachzugehen, den wir schon lange hegten: Wir liessen Max bei einer auf hyperaktive Kinder spezialisierten Ärztin untersuchen. Dass wir sie fanden, ist für mich ein Geschenk Gottes - denn diese Spezialisten sind rar. Ihre Diagnose: Ich hatte nicht versagt, sondern Max war tatsächlich ein hyperaktives Kind.

Er hat also keinen seelischen Defekt, sondern leidet an einer hirnorganischen Störung. Damit ist er keine Ausnahme: Vier bis fünf Prozent aller Kinder sind nach vorsichtiger Schätzung weltweit hyperaktiv. Alle vier Diagnosekriterien trafen zu: Seine Schwierigkeiten, sich selbst zu beschäftigen, bei einer Sache zu bleiben, ständig neue Reize zu suchen (es sei denn, ein Erwachsener widmete ihm seine ganze Aufmerksamkeit), bezeichnen Fachleute als Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung. Seine Bilder - Max kritzelte mit vier Jahren noch immer nur schwarze Striche - waren ferner ein Hinweis auf die feinmotorische Störung, zu der auch seine Hypermotorik gehörte. Seine Impulsivität, die Unfähigkeit, sein Verhalten zu kontrollieren, sowie Menschen und Dinge vorsichtiger zu behandeln, war ebenso typisch wie die „affektive Störung“, die sich bei Max in Aggressionen, Rücksichtslosigkeit, Wutanfällen und Unzufriedenheit äusserte.

Diagnose war wie eine Erlösung

Typisch auch seine Reaktion bei hohem Fieber: Dann war er ruhig, zufrieden, und entspannt. Durch das Fieber wurden im Gehirn fehlende Botenstoffe bereitgestellt, an denen es hyperaktiven Kindern ansonsten mangelt. Die Diagnose war wie eine Erlösung. Endlich fing ich an, Max zu verstehen. Doch jetzt begannen ganz andere Schwierigkeiten. Wem auch immer ich erklärte, dass mein Sohn hyperaktiv ist: Die Reaktion war fast immer gleich. Ich sei zu empfindlich und mein Sohn doch ganz normal. Die Ärztin wollte kurz vor dem sechsten Geburtstag mit Max eine medikamentöse Therapie beginnen. Sorgfältig erklärte sie mir den Hintergrund des „Hyperkinetischen Syndroms“, so der Fachausdruck.

Demnach kann der Mangel an Botenstoffen durch Analeptika (anregende Medikamente) ausgeglichen werden. Sie wirkten bei hyperaktiven Kindern „paradox“, indem sie den Tatendrang bremsten, anstatt aufzuputschen. Das Kind werde also nicht ruhig-, sondern „normalgestellt“.Spätschäden seien nicht bekannt. Wir willigten ein: Es war einfach zu deutlich absehbar, dass Max ein Kind war, das mit seinem Verhalten dabei war, nicht nur unsere Familie, sondern auch seine Zukunft zu zerstören. Zwar halfen ihm unser gewachsenes Verständnis und veränderte Erziehungsmethoden ebenso wie eine spezielle Turngruppe, in der er seine grob- und feinmotorischen Fähigkeiten trainiert.

Aber alles half nur bedingt. Seine Wutanfälle, sein unkontrolliertes Verhalten, seine Konzentrationsschwäche und das fehlende Sozialverhalten forderten unsere Kräfte und die seiner Erzieherinnen bis zum Äussersten - und oft darüber hinaus. Wieder zeigten sich die meisten Mitmenschen verständnislos: Dass wir Max ein Medikament verabreichen wollten, rief heftigen Widerstand hervor. Erneut können Argumente nur wenige überzeugen. Seitdem informieren wir nur noch engste Freunde über Max und die Behandlung. Mit meinen letzten Kräften wartete ich auf den Tag, an dem wir mit der medikamentösen Therapie beginnen sollten. Doch zunächst wurde für mich alles nur schlimmer. Mal wirkte der Saft, mal nicht - dieses Hin und Her war für mich kaum noch zum Aushalten. Wir wechselten das Medikament und versuchten, die richtige Dosis zu finden. Wir steigerten und steigerten, bis kurz vor der Höchstdosis.

Ich betete wie ein Weltmeister und doch wurde es viel schlimmer

Wochenlang war ich so am Ende, dass ich selbst tagsüber weinend durch die Wohnung lief. Die schlimmsten Erfahrungen machte ich damals mit Gott. Ich betete wie ein Weltmeister. Und immer, wenn ich den Eindruck hatte, dass Gott mein Gebet erhören würde, wurde bald darauf die Situation noch viel schlimmer.

Noch nie habe ich mich von Gott so verlassen und verraten gefühlt. Das ging einige Monate so, bis wir kurz vor der Dosis waren, die auch die Ärztin nicht mehr erhöhen wollte. Und auf einmal war Ruhe - wir hatten die richtige Menge gefunden. Wir konnten sie in den letzten zwei Jahren sogar wieder um die Hälfte senken. Ich wandele nun nicht mehr den ganzen Tag über ein kindliches Minenfeld.

Max hat, solange das Medikament wirkt, keine Wutausbrüche mehr, ist nicht mehr hypermotorisch, nicht mehr überdreht, wirkt wesentlich glücklicher und ausge glichener als vorher. Er gefährdet in dieser Zeit nicht mehr die Gesundheit seines Bruders und seiner Spielgefährten. Er kann sich sogar gut alleine beschäftigen. Vor allem seitdem er sich kurz vor seinem sechsten Geburtstag das Lesen selbst beigebracht hat. Süchtig ist er, wie alle mit Stimulanzien therapierten hyperaktiven Kinder, nicht geworden. Einnahmepausen gehören zum Programm. Max zeigt keine Sehnsucht nach den Tabletten.

Die einzige Nebenwirkung ist Appetitlosigkeit, während das Medikament wirkt. Inzwischen klappt das aber ganz gut: Ab circa 14 Uhr beginnt Max wieder, vermehrt zu essen und holt nach, was er seit dem Frühstück ausgelassen hat. Gewicht und Wachstum entwickeln sich normal. In der Schule kommt er einigermassen zurecht. Er hat eine verständnisvolle Lehrerin. Manche Probleme sind auch geblieben: Nach wie vor hinkt seine feinmotorische Entwicklung ein bis zwei Jahre dem „Normalen“ hinterher, immer noch ist er sehr unflexibel, Veränderungen seiner täglichen Routine verstören ihn. Abends, wenn die Wirkung der Tabletten nachlässt, dreht er immer noch sehr auf. Aber was sind zwei Stunden „Wahnsinn“ täglich gegen die vierzehn Stunden vorher?

Von vielen Müttern nich akzeptiert

Max hat auch wieder Freunde - viele Kinder wollten vorher nicht mehr mit ihm spielen. Aber die meisten Mütter scheinen erfahren zu haben, dass mit Max etwas nicht stimmt. Er wird zwar von den Kindern weitgehend akzeptiert, aber nicht von vielen Müttern. Die Folge: Sie laden ihn nicht zu Spielnachmittagen ein, was er bisher glücklicherweise noch nicht bemerkt hat. Mich verletzt dieses Verhalten.

Aber ich kann zumindest wieder für meinen Sohn beten - das habe ich mich fast zwei Jahre nach meinen Gebetserfahrungen während der Medikamenten-Einstellungsphase nicht mehr getraut. Gott hat diese Verletzung geheilt. Ich konnte ihm vergeben, dass er mich dieses Leid hat durchleben lassen. Zwar kommen ständig neue Verletzungen hinzu - dazu gehört auch der Ruf, den ich mir als „Raben-Mutter“ erworben habe und unter dem auch mein jüngster Sohn im Kindergarten zu leiden hat. Aber wir haben trotzdem die Hoffnung und das Vertrauen, dass Max’ Leben grundsätzlich gelingt. Irgendwie.

Datum: 12.05.2002
Autor: Ulrike Weber
Quelle: idea Deutschland

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