Das Geheimnis der einsamen Stille

«Wir müssen uns selber bewusst Ruhe verordnen»

Schon füllt sich die Agenda für 2009. Terminnot, Leistungsdruck und Freizeitstress nehmen ständig zu. Viele seufzen unter dem Stress und nehmen doch die Sehnsucht nach Ruhe kaum mehr wahr. Wir müssten das Geheimnis der einsamen Stille neu entdecken, betont der Theologe und Stille-Trainer Georges Morand.
Manche Menschen überdecken durch Action die innere Unruhe.
Sich selber bewusst Ruhe verordnen und nicht warten, bis es ein Arzt tun muss.

Das Magazin ideaSpektrum Schweiz sprach mit Morand über Hast und Hektik in unserer Zeit.

idea: Schnelllebig, temporeich, ja rasant ist unser Leben geworden. Auf wen trifft das überhaupt zu?
Georges Morand:
Auf alle, ausser auf Menschen, die im Kloster oder auf der Alp leben! Aber gerade an solch ruhigen Orten taucht der innere Lärm auf, und man wird mit der eigenen Unruhe konfrontiert, die weitreichender ist als der «high speed» unserer Gesellschaft.

Leben wir am Ende so temporeich, um dieser inneren Unruhe nicht zu begegnen?
Ein Teil der Menschheit überdeckt durch Action die innere Unruhe, weil sie eine erschreckend ehrliche Stimme im Herzen ist. Andere Menschen sehnen sich echt nach dieser inneren Ruhe und Balance, fühlen sich aber oft sehr ohnmächtig gegenüber den Anforderungen, dem Tempo, dem Druck, den Erwartungen von aussen oder auch von innen.

Wer leidet besonders unter dieser Hektik?
Menschen in Berufen mit grossem Termin- und Leistungsdruck sind besonders stark betroffen. Oder Sozial- und Pflegeberufe, weil sie kaum mehr Zeit für das Entscheidende in ihrem Beruf haben, nämlich für Zuwendung und Nähe. Noch mehr hängt es vom eigenen Charakter ab. Mir fällt auf, dass Menschen, die sich schlecht vom Umfeld abgrenzen können oder «gefallen wollen», stärker betroffen sind. Auch Perfektionisten leiden darunter, weil Tempo und Druck nicht mehr zu der Genauigkeit passen, die sie brauchen würden, um glücklich zu sein. Auch Treiber in uns selbst wie «Mehr!», «Alles!», «Sofort!», «Überall dabei sein wollen!» und «Sehen und gesehen werden!» sind starke Unruhestifter. Nicht vergessen dürfen wir die Kinder. Auch sie leiden bereits unter Stress. Eltern sind da besonders gefordert und müssen dringend Ruheinseln schaffen.

Verantwortungsvoller Umgang mit der eigenen Zeit und Kraft - wie schaffen wir das?
Aufhören, die Umstände zu beschuldigen, dafür Verantwortung für meine Zeit- und Kraftressourcen übernehmen. Das ist gesundmachende Selbstbestimmung. Wenn ich nicht mehr gelebt werden will, muss ich wissen, was und wie ich leben will. Das Problem ist, dass Ruhelosigkeit einem nicht ruhig über das Was und Wie nachdenken lässt.

Ihr Rezept gegen Ruhelosigkeit?
Sich selber bewusst Ruhe verordnen und nicht warten, bis es ein Arzt tun muss. Mein Vorschlag: Sich einmal eine Stunde hinsetzen und fragen: Was sind meine wirklichen Energiespender? Was sind die Energiekiller? Wann, wodurch, wo wird mein Herz ruhig? Und dann in kleinen Schritten Konsequenzen ziehen.

Was raten Sie als Coach und Berater im Umgang mit der Terminplanung?
Hinsehen und aus Fehlern lernen. Nicht nur in die Technik investieren, sondern sich Zeit nehmen, um destruktive, sich wiederholende Muster zu erkennen. Was sich nicht bewährt hat, neu gestalten, sich dagegen wehren, manchmal auch gegen gewisse Leute und Programmzwänge. Das grössere Problem sind aber unsere eigenen inneren Werte und Lebensmuster. Die Art der Terminplanung ist nur die Spitze des Eisbergs.

Wie meinen Sie das?
Viele Menschen, die in meine Biografie-Seminare kommen, überdenken das erste Mal, was sie wirklich wollen und was eben nicht mehr. Erste Schritte sind dann: fokussieren, reduzieren, priorisieren! Das heisst im Alltag: knallhart verzichten auf «Zuviel» und lernen, aus den vielen Optionen das für mich Richtige und Wichtige zu wählen. Das heisst weiter: Lernen aus Erfahrungen der Vergangenheit und der Gegenwart. Warum wiederholen, was sich nicht bewährt hat, und warum neu erfinden, was sich schon lange bewährt? Wir müssen lernen lernen!

Was würde Jesus zu unserem Lebenstempo sagen?
Ich glaube, er würde sagen: Lernt von mir! Ihr wollt zu viel und werdet dabei arm. Ruhelosigkeit macht leer und abgestumpft. Ruhe erfüllt und schärft die Sinne. Tut Busse und kehrt um, damit ihr reich werdet! Oder er würde uns ein Wegwort mitgeben wie Psalm 23 oder «Kommt her, all ihr Müden und Beladenen, ich will euch erquicken und Ruhe geben.» (Matthäus__11,28) Solche göttlichen Impulse bewusst inhalieren, auf der Zunge zergehen lassen - wenn nötig über Monate!

Heisst das, dass wir uns jeglichen Stress vom Hals halten sollen? Oder genügt es, punktuell eine Auszeit zu nehmen?
Massvoller Stress ist gesund. Um aber aus dem Hamsterrad der End- und Pausenlosigkeit im Alltag herauszukommen, sollten wir dringend täglich kleine und ab und zu grössere Zäsuren einbauen. Von Auszeiten halte ich sehr viel, wenn sie helfen, im Alltag anders zu leben.

Wie könnte das geschehen?
Täglich: Bänke laden überall dazu ein, um kurz das Tempo zu reduzieren. Die Bahnhofskirche im Hauptbahnhof Zürich ist hoch frequentiert von Menschen, die kurz innehalten. Das stille Örtchen bietet sich überall an, um sich auch seelisch zu «entlasten» und still zu werden. Oft hängt es nur an bewusst eingeräumten wenigen Sekunden oder Minuten. Von Zeit zu Zeit: Rückzug in die Einsamkeit, um Distanz zu gewinnen, eine neue Sicht zu erhalten und Gott überhaupt zu hören. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was für eine Form von Ruhe einem entspricht.

Geben Sie uns ein Beispiel aus Ihrem Alltag.
Wenn ich manchmal merke, dass ich von Termin zu Termin renne, gehe ich fünf Minuten früher los, um in Ruhe hinspazieren zu können und mache grosse Schritte. Gehetzte Leute machen kleine Schritte. Oder wenn mich etwas auffressen will, gehe ich auf einen kleinen Hügel, der wenige Minuten von meinem Büro weg ist. Ich setze mich auf die Bank und schaue über die Hügel, sehe Gossau mit mehr Distanz, sehe in die Berge und nach Grüningen. Das gibt innere Weite, das sind heilende Momente, wenn ich dann bete: «Gott, hilf mir, meinem Problem den angemessenen Platz einzuräumen.»

Wie können wir in der hektischen Zeit Gott begenen?
Steig zwei Stationen früher aus der S-Bahn, und geh über die Wiese nach Hause! Die Blumen und Bäume loben Gott, sagen die Psalmen. Sie helfen, die Mitte zu behalten oder zu finden, die Sinne zu schärfen. Wenn die Seele nicht mehr mitkommt, ist Leib und Seele im Verriss - also keine Einheit mehr. Die Folge: Das stille Kämmerlein in uns füllt sich mit Ruhelosigkeit. Dabei können wir Gott nur begegnen, wenn wir Zugang zu diesem stillen Kämmerlein haben.

Datum: 30.10.2008
Autor: Esther Reutimann
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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