Ein Gewinn für's Leben

Macht Scheitern gescheit?

„Hast du jemals etwas so schön zusammenbrechen sehen?“, fragt Alexis Sorbas, als die Seilbahn, die er in wochenlanger Arbeit gebaut hat, in sich zusammenstürzt. Der Held aus Nikos Kazantzakis berühmtem Roman flüchtet nicht in Depressionen. Stattdessen tanzt er – angesichts des offenbaren Scheiterns.
Gerade Situationen des Scheiterns können Situationen sein, in denen Gott Menschen erwachsen werden lässt.

Doch längst nicht jeder kann so leichtfüssig über eine Niederlage hinwegtanzen. Oft bedarf es geradezu des Innehaltens, um mit Verlust, Versagen und Schuld umzugehen. Denn Scheitern haben wir – von klein an auf Erfolg getrimmt – kaum gelernt. Dabei spricht das Leben eine andere Sprache. Das Scheitern – das spektakuläre und das alltägliche – ist allgegenwärtig: Geplatzte Reformpläne in der Politik, Pleiten und Arbeitsplatzverluste sowie dramatisch hohe Scheidungsquoten belegen das tausendfach. Was läge also näher, als den Umgang damit zu lernen?

Scheitern und Niederlagen aber gehören zu einem der letzten Tabus in unserer Gesellschaft. Damit das nicht so bleibt, würde zum Beispiel Daniel Goedevert gern einen Lehrstuhl für gescheiterte Manager einrichten: „Ich wäre der erste Dozent. Als ich als stellvertretender Vorsitzender des VW-Konzerns geschasst wurde, habe ich mir viele Fragen gestellt: ,Was habe ich falsch gemacht? Kann ich in Zukunft noch eine Firma führen? Wie reagiert meine Familie?’ Noch heute kommen mir diese Fragen immer wieder hoch – wie Zwiebelgeschmack im Mund. Doch das hat seinen Sinn. Ich glaube, man sollte sich über den Sinn des Scheiterns genauso viele Gedanken machen, wie über den Sinn des Erfolgs“, sagt der Ex- Manager.

Erfolgreich scheitern?

Kann man denn aus dem Scheitern Gewinn ziehen? Kann man gar „erfolgreich“ scheitern? Wer zu schnell so fragt, steht in der Gefahr, eine wichtige Station zu überspringen, und bringt sich womöglich so um eine „Frucht“ des Scheiterns, die nur erntet, wer dem Blick in den Abgrund und den Gang durch die Tiefe wirklich durchlebt und durchlitten hat.

Die Krise muss ausgehalten werden. Zu warnen ist jedenfalls vor dem Versuch, eine Art rationalen oder geistlichen Bypass um den Tiefpunkt der Erfahrung des Scheitern herum zulegen. Wer zu schnell „vernünftige“ Erklärungen oder auch geistliche Deutungen für das Scheitern zur Hand hat und den Weg abkürzen will, bringt sich womöglich um die Chance im Scheitern. Damit Scheitern produktiv sein kann, bedarf es zunächst des Eingeständnissen: „Ja, ich habe versagt. Ich muss loslassen. Ich kann nichts mehr bewirken. Ich habe keine Möglichkeit etwas zu ändern, ich bin der Situation ausgeliefert.“

Vollständig ohnmächtig

Michael Bernd (46) hat genau das erlebt: Er scheiterte, als er sich als Ingenieur mit einem Patent geschäftlich selbstständig machte und sich trotz seiner guten Geschäftsidee am Markt nicht behaupten konnte. Weil er jahrelang den Kampf um den geschäftlichen Erfolg zur obersten Priorität gemacht hatte, kam zum wirtschaftlichen Ruin die Gefährdung seiner Ehe hinzu. „Erst als ich mir eingestanden habe, dass ich aus eigner Kraft nichts mehr retten kann und vollständig ohnmächtig bin, konnte ich meine ehrgeizigen Pläne loslassen – ohne dass sich damals schon ein neuer Weg aufgetan hätte“, erzählt er. Inzwischen hat er wieder eine Stelle bei einer kleinen Firma gefunden – und etwas, was er um keinen Preis mehr missen will: inneren Frieden, eine realistische Selbsteinschätzung und eine liebevolle Beziehung zu seiner Frau. Gemeinsam tasten sie auch nach der Antwort auf die Frage, wie sie denn als Christen mit dem Scheitern umgehen sollen. „Nach dem Konkurs habe ich oft gefragt, wo Gott dieser Zeit war“, erzählt Michael Bernd. Viele Monate habe er diese Fragen ausgehalten. Heute ist er geneigt zu sagen: „Ich habe aufgehört, meine vermeintlichen Erfolge als den Segen Gottes zu sehen – ich will mich in meinem Scheitern von ihm finden lassen.“

Trauern erlaubt

Wer scheitert, durchlebt einen ähnlichen Prozess wie beim Verlust eines geliebten Menschen: Er trauert. Und wie bei jedem Trauerprozess gehören das In- und Nacheinander von Phasen der Anklage und Resignation zur Bewältigung des Scheiterns hinzu. Wer die Trauer über den Verlust verdrängt und schnellen Ersatz sucht, bleibt womöglich in latenter Depression stecken.

Trauerbegleiterin Ulrike Stöcker hat immer wieder erlebt, dass gerade in der Tiefe der grössten Hoffnungslosigkeit eine Wende geschieht. „Wann das geschieht, lässt sich nicht voraussagen – aber ich habe immer wieder erlebt, dass es sich ereignet.“ Renate Heimann kann bis heute nicht genau beschreiben, was genau ihr genau geholfen hat, nach 25 Jahren das Scheitern ihrer Ehe zu verarbeiten. „Es war als ginge ich durch ein endloses Labyrinth aus Zukunftsangst, Selbstzweifeln, Zorn, Trauer und Verletzung“, beschreibt sie ihre Gefühle. „ Aber irgendwann wuchs in mir die Zuversicht, dass es auch einen Weg heraus gibt.“

Für überflüssige Vergnügen

Was ihr geholfen hat, diesen Weg zu finden und zu gehen? Es waren weniger rationale Erklärungen als vielmehr die heilsame Nähe von Freundinnen, die einfach da waren und ihr Zeit liessen. Eine Einladung zum Essen, ein gemeinsamer Spaziergang – und einmal sogar ein Geldschein, mit dem Vermerk: „Nur für überflüssige Vergnügungen ausgeben“, sind ihr in guter Erinnerung geblieben. Heute möchte Renate Heimann diese Zeit nicht mehr missen: „Ich bin barmherziger geworden – und ich weiss heute, dass ich stärker bin, als ich bisher wusste“, lautet ihr Resümee.

Gewinnender Verlierer?

Wer sich in seinem Scheitern selbst annimmt und von anderen angenommen wird, gewinnt ein Fundament, auf dem er sich mit seinem Scheitern in Bezug auf sich selbst auseinandersetzen kann. Selbsterkenntnis und Selbstreflexion zeigen, dass Scheitern produktiv sein kann. Wer bereit ist, sich angesichts des Scheiterns selbst neu zu definieren, kann darüber zum „gewinnenden Verlierer“ werden. So kann ein Abschied von der bisherigen Arbeitsstelle womöglich das Tor zu bisher ungelebter Kreativität oder zur längst fälligen Verlangsamung des Lebens sein. Auch die Erkenntnis, dass Sinn und Erfüllung im Leben nicht so sehr von Status, Geld und Erfolg abhängen, kann eine Frucht des Scheiterns sein.

Spiritualität der Unvollkommenheit

Eine Reihe von Theologen und Seelsorgern finden gerade im Scheitern eine zutiefst geistliche Dimension. Denn Gott ist keineswegs zuallererst in Glück und Erfolg zu finden. Einer, der jahrelang selbst als geistlicher Berater für andere gearbeitet hatte, berichtet zum Beispiel davon, dass er erst seine eigene Unvollkommenheit und Verletzlichkeit schmerzhaft spüren musste, um selbst aus der Quelle zu trinken, die er anderen gewiesen hatte: dass Glaube nicht aus Leistung besteht, sondern aus Angenommensein.

In einer gesunden Spiritualität, ist Gott eben keine Droge, die vor allen schwierigen Erfahrungen verschont. Gerade Situationen des Scheiterns können Situationen sein, in denen Gott Menschen erwachsen werden lässt. Ein Blick auf biblische Gestalten wie Mose, David, Abraham und Sara zeigt, dass wir im Scheitern in guter Gesellschaft sind.

Wer Ja dazu sagen lernt, dass Scheitern Verwundungen und Verletzungen zum Leben gehören, für den kann eine neue Lebensqualität entstehen: Verwundbar, verletzlich, berührbar zu bleiben, ist das Ziel eines geistlichen Weges.

Autorin: Karin Vorländer

Datum: 06.02.2008
Quelle: Neues Leben

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