Leiden

«Wir müssen dumme Floskeln vermeiden!»

Leid — wozu? Wenn das eigene Leben plötzlich aus der Bahn gerät, martern uns Fragen, doch Erklärungen und Sinn bleiben nicht selten verborgen. Der Theologe und Ethiker Prof. Dr. Michael Herbst von der Theologischen Fakultät Greifswald plädiert für mehr Verständnis, Trost und Respekt vor dem Geheimnisvollen.
Trauernder Mann (Symbolbild)

Herr Dr. Herbst, woher können wir wissen, dass Gott sich um unser Leid kümmert und nicht nur fernab unserer Schmerzen im Himmel weilt?
Prof. Dr. Herbst: Ich denke da besonders an zwei Dinge. In der Bibel wird in Jesaja 57,15 beschrieben, wo Gott wohnt. Die Antwort ist zweifach: Er wohnt im Himmel – und bei denen, «die zerschlage­nen Geistes sind». Er hat sozusagen bei denen, die ganz unten sind, seinen zweiten Wohnsitz genommen. Das bewahrheitet sich dadurch, dass sich Gott zu uns herunterbeugt und durch Jesus Christus selber Mensch wurde.

In der Zeit, in der ich als Kran­kenhausseelsorger gearbeitet habe, habe ich den Tod von Jesus Christus am Kreuz von einer neue Seite begriffen. Mir war immer wichtig, dass Jesus für uns starb und damit unsere Schuld trägt. Neu wichtig geworden ist mir, dass Jesus am Kreuz auch mit uns leidet. Das sagt zum Beispiel auch die Bibel in Jesaja 53: Gott ist ein Leidender unter Leidenden geworden.

Müssen wir denn nur genug glauben, um vom Leid befreit zu werden?
Natürlich nimmt Gott auch zuweilen ganz spon­tan Leiden und Krankheit von Menschen. Generell aber leben wir nicht in der Zeit, in der wir von allem befreit wären. Auch Menschen, die sich in ihrem Leben auf Gott verlassen, haben Schweres durchzuma­chen, müssen sterben. Ich finde es unbarmherzig, wenn Menschen, die ge­betet haben und nicht gesund gewor­den sind, auch noch gesagt bekom­men, sie hätten vielleicht nicht genug geglaubt oder es sei sonst etwas in ihrem Leben nicht in Ordnung. In die­sem Zusammenhang muss man einfach eine Aussage aus der Bibel be­rücksichtigen: Eines Tages wird Gott allem Schmerz ein Ende bereiten, er wird jede unserer Tränen trocknen. Aber diese Verheissung ist an den Zeitpunkt, wenn Jesus zurück auf die Erde kommt, geknüpft und nicht an das Jetzt.

Macht Leiden immer Sinn?
Sinn im Leid zu finden, ist oft sehr schwer. Wenn zum Beispiel eine Mutter ihr Kind verliert, da gleich einen Sinn entdecken zu wollen – also, ich weiss nicht. Da möchte ich lieber das Geheimnis und das Dunkle aushalten und akzeptieren, dass Gott Leid eben noch zulässt, warum auch immer. Noch ist nicht die Zeit, in der Gott mit allem aufräumt.

Inwieweit bedient sich Gott des Leides, um uns reifen zu lassen?
Nun, wir Menschen scheinen in der Tat nicht zu reifen ohne Belastung und Schwierigkeiten. Und diese Tatsache nutzt Gott für seine guten Ziele mit uns. Dennoch kann ein Mensch oft erst im Rückblick erkennen, dass das Leid auch seine sinnvollen und guten Seiten hatte – selbst wenn es ihn bis an die Grenzen des Zerbrechens geführt hat.

Wie können wir Leid in unserem eigenen Leben und dem anderer begegnen?
Menschen, die leiden, gehört vor allem unser Respekt und unsere Achtung. Das bedeutet, dass wir uns aller schlichten Erklärungen und dummen Floskeln enthalten. Wir sollten dem Anderen erst einmal unse­re Aufmerksamkeit, unsere Treue und unsere Begleitung anbieten.

Das Zweite: Wir dürfen klagen. Die Bibel ist enorm realistisch. Es gibt nichts, was vor Gott nicht ausgespro­chen werden dürfte. Kein Gedanke ist zu gefährlich oder zu böse, dass ein Mensch ihn nicht äussern dürfte.

Und dann erst stellt sich das Dritte ein: Ich erfahre den Trost und darf begreifen, dass ich im Leid Gott nicht gegen mich habe, son­dern Jesus an meiner Seite.

Bearbeitung: David Sommerhalder

Datum: 14.01.2006
Quelle: Neues Leben

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