Das Diakoniewerk Bethanien bietet in Kaltenbach TG Frauen mit Essstörungen eine Wohngruppe an,
wo sie im Heilungsprozess ganzheitlich unterstützt werden. Die Leiterin ist Gretina Nüesch.
Gretina Nüesch (Bild: Mirjam Fisch-Köhler)
«Unser Angebot entspricht exakt dem Anliegen
der Diakonie», sagt Gretina Nüesch. Die Verantwortlichen der Diakonie Bethanien reagierten
auf die Not von Frauen mit Essstörungen. In der ganzen
Schweiz gab es keinen Ort, wo Betroffene schon vor oder
nach einer stationären Behandlung wohnen und an ihren
Problemen arbeiten konnten. Das Diakoniewerk sprang in
die Lücke. 2014 eröffnete es in einem ehemaligen Hotel in
Kaltenbach eine Wohngruppe.
Neue Ess-Gewohnheiten einstudieren
Momentan leben zehn Frauen zwischen 17 und 51 Jahren von Sonntag bis Freitag hier. Sie gehen weiterhin zur
Schule, studieren oder arbeiten. Dazu werden sie von Sozialpädagoginnen begleitet und erhalten Therapien von
externen Physio-, Ergo- und Psychotherapeutinnen. Eingeübt werden einkaufen, kochen und gemeinsam essen.
Abends sitzen dazu alle an einem Tisch. Anschliessend
bleibt die Gruppe in Gemeinschafträumen oder im Garten beisammen – denn die Zeiten nach den Mahlzeiten
sind die herausfordernden.
In Gruppengesprächen oder
mit der Bezugsperson thematisieren die Bewohnerinnen
ihre Stolpersteine. Ziel ist es, dass sie wieder genüsslich
Mahlzeiten in angemessener Menge zu sich nehmen können, weil sie wissen, dass sie wertvoll sind.
Psychische Erkrankungen
Das Thema Essen beherrscht die Bewohnerinnen. Sie leiden an Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brech-Sucht),
Binge Eating (grosse Mengen in kurzer Zeit hinunterschlingen) oder Adipositas (Esssucht). Ursachen sind
unter anderem mangelndes Selbstwertgefühl, Traumata
oder Vernachlässigung. «Dass sie ihr Essverhalten kontrollieren können, gibt Magersüchtigen ein Gefühl der
Kontrolle», erklärt Gretina Nüesch. «Und dass sie sehr
schlank sind, verschafft ihnen im Freundeskreis oft Bewunderung.»
Die Sozialpädagogin und Betriebsführerin
hat die letzten Jahre mit verhaltensauffälligen jungen
Männern gearbeitet. Diese drückten Frust oft über Gewalt
aus, Mädchen wenden sich in ihrer inneren Not eher gegen sich selber. Was kaum bekannt ist: Essstörungen weisen die höchste Mortalität aller psychischen Krankheiten
auf. Das Diakoniewerk plant, sein Angebot zu erweitern.
Nach dem Aufenthalt (einige Wochen bis zwei Jahre) bestätigen die Frauen beim Austritt, dass sie Fortschritte im
Umgang mit ihrer Krankheit gemacht haben.
Gelebte Spiritualität als wichtige Ressource
Einmal pro Monat besucht Pfarrerin Monika Zolliker die
Bewohnerinnen. Sie steht als Seelsorgerin zur Verfügung
und liest mit den Bewohnerinnen passende Texte in der
Bibel. In den Psalmen zum Beispiel werden Gefühle wie
Wut, Trauer, Schuld und Scham ausgedrückt. Anhand
dieser Texte erlauben sich die Betroffenen, eigene Gefühle
wieder zuzulassen. Denn sie tun sich schwer damit, den
eigenen Körper, Hunger oder Sattheit wahrzunehmen.
Psychologin Erika Toman steht den Bewohnerinnen
als Fachperson zur Seite. Sie befürwortet den Einbezug
christlicher Werte, da diese zur Kultur unseres Landes
gehörten. «Gelebte Spiritualität ist nachweislich eine Ressource zur Überwindung von Lebenskrisen», sagt Gretina
Nüesch. Sie nimmt die Fragen zum christlichen Glauben
auf und möchte dieses Thema gleichwertig einsetzen wie
andere Angebote. Und eben hat ihr eine der Frauen mitgeteilt, sie wolle ganz gesund werden. Sie habe wieder Kraft
geschöpft, um zu leben.