Interview

„Das Beste kommt nach der Krise“

Mit ihrem Buch „Ich bin nicht mehr die Frau, die du geheiratet hast“ hat die Paar-Therapeutin und Supervisorin Ago Bürki auf die Veränderungen hingewiesen, die im Leben eines Menschen – durch Krisen hindurch – geschehen und geschehen müssen. Krisen – gerade auch in der Lebensmitte – bringen Menschen weiter, sofern sie sich ihnen stellen.
Dr. Ago Bürki.


„Viele Männer durften von klein auf nicht schwach oder hilfsbedürftig sein.“

Frau Ago Bürki, Sie haben viel mit Menschen in Krisen gearbeitet. Ist eine Krise überhaupt normal?
Dr. Ago Bürki: Diese Frage hat mich lange beschäftigt. Die „Midlife-Crisis“ ist sicher typisch in unserer Kultur. Vor allem auf meinen Übersee-Reisen merkte ich aber, dass es sie in Ländern, in denen man ein ganz einfaches Leben führt, nicht gibt. Menschen, die sich um die tägliche Nahrung sorgen müssen und keine Arbeit finden, haben keine solche Krise. Sie ist ihnen unbekannt. Sie ist ein Luxus der Menschen in unserer Kultur. Wir haben viel höhere Ansprüche an das Leben als Menschen in Entwicklungsländern.

Erleben unterschiedliche Temperamente auch unterschiedliche Lebensmitte-Krisen?
Ich denke, eher die persönliche Herkunft als das Temperament macht den Unterschied. Ich kenne einen Mann, der sozial von ganz unten kommt, sich aber ganz hinauf arbeitete. Er ist aber heute immer noch gleich unsicher, wie er früher gegenüber den Oberen war, als er noch ganz unten war. Heute weiss er zwar, wie man sich in diesen Kreisen verhält oder sich kleidet, aber die Unsicherheit ist geblieben.

Kommen solche Unterschiede auch in der Paar-Therapie zum Tragen?
Schwierigkeiten gibt es vor allem dann, wenn einer der beiden Partner von unten und der andere von oben kommt. Da gibt es oft Unterschiede, die sich schwer ausgleichen lassen.

Können Probleme in der Paar-Beziehung auch eine Midlife-Crisis auslösen?
Sie können ein Auslöser sein, aber die Krise muss nicht durch Beziehungsprobleme ausgelöst werden. Sicher ist: Wenn einer der Partner in die Krise kommt, packt sie auch den anderen. Es geht um eine existenzielle Krise, die grösste Identitätskrise im Leben eines Menschen.

Braucht es einen konkreten Anstoss, damit man sich auf diesen Prozess einlässt?
Ganz so einfach ist es nicht. Es braucht eine tiefere Einsicht, ein Leiden, ein Warten, oft verbunden mit Depressionen, bis man sich auf diesen Prozess einlässt. Viele lassen sich aber überhaupt nie darauf ein, vor allem die Männer. Sie fühlen sich oft als Versager, wenn sie unter Depressionen leiden. Sie neigen dazu, immer noch irgendeine rationale Erklärung zu finden. Aber sie wollen sich auf keinen Fall eingestehen, dass sie Hilfe brauchen. In der Lebensmitte sind Depressionen häufig.

Liegt es daran, dass sie sich nicht gerne mit ihrer Vergangenheit auseinander setzen, obwohl dies für ihre Zukunft wichtig wäre?
Das sehe ich so. Auch die Gegenwart ist untrennbar mit der Vergangenheit verbunden. Und sie wird immer verbunden bleiben mit der Zukunft.

Was braucht es, bis ein Mann bereit ist, Hilfe zu suchen?
Er muss sich selbst eingestehen, dass er Hilfe braucht. Der zweite Schritt ist, konkrete Hilfe zu suchen. Bei Ehepaaren ist es meistens die Frau, die auf den Mann einwirkt, mit ihr zusammen Hilfe zu suchen.

Mit welchen Therapiemodellen arbeiten Sie?
Ich habe zwar eine bestimmte Ausbildung, und ich schätzte diese auch. Im Laufe der Jahre habe ich aber mein eigenes Konzept erarbeitet. An der Wand meines Büros hängt eine Amaryllis-Blüte, deren Stil zweimal gebrochen ist. Das hat eine Geschichte. Als die Pflanze noch vor dem Blühen herunter fiel und der Stil brach, wollte ich sie zuerst wegwerfen. Doch dann entschied ich mich, sie in einen Blumentopf einzupflanzen. Und siehe da: Trotz den beiden Brüchen gelangte die Knospe zur vollen Blüte. Daraus leite ich heute mein therapeutisches Credo ab: Man kann die Brüche im Leben nicht ungeschehen machen, trotzdem kann es zur Blüte reifen. Wenn ich mit Menschen arbeite, spreche ich mit ihnen über die Brüche in ihrem Leben, die schmerzvollen Ereignisse und Verletzungen, von denen sie noch geplagt werden. Ich stelle dann die Frage: Was brauchen Sie, damit Sie trotzdem zur Blüte gelangen? Wie können Sie die Brüche akzeptieren? Man kann nicht dahinter zurückgehen.

Wie machen Sie das konkret?
Wir sprechen über die Geschichte und die Ereignisse, die zu einem Bruch geführt haben. Es können zum Beispiel schmerzliche Erfahrungen im eigenen Elternhaus sein. Vielleicht auch in der Schule oder im Beruf, wo man versagt hat oder schuldig geworden ist. Oder Erfahrungen mit Menschen, mit denen die Beziehung nicht gelungen ist. Sobald man herausgefunden hat, wie der Bruch geschehen ist, kann man damit arbeiten. Und wenn ich mich damit versöhnen kann, kann ich trotzdem zur Blüte kommen. Ich habe bislang keinen einzigen Menschen kennen gelernt, der in seiner Geschichte keine Brüche hat. Ich kenne aber auch noch sehr wenige Menschen, die sich damit versöhnt haben.

Wie gehen diese Menschen damit um?
Die meisten ziehen es vor, ein Leben lang damit zu hadern. Sie suchen immer nach dem Grund, weshalb ihr Leben nicht gelingt. Sie bringen nicht den Mut auf, zu dem zu stehen, was gewesen ist. Das Problem liegt aber darin, dass man keine Minute hinter seine Gegenwart zurückgehen kann. Und wenn man sich nicht mit seinem Schicksal versöhnt hat, kann man auch kein gutes Leben aufbauen. Es ist wichtig, nicht nur zu erleben, dass Gott sich mit uns versöhnt, sondern man muss sich auch mit Gott und damit mit der eigenen Geschichte versöhnen.

Was haben Sie mit Männern getan, die sich einfach mitschleppen liessen?
Ich empfand das oft als sehr schwierig, und ich hatte lange Zeit grosse Schwierigkeiten mit den Männern. Sie wussten immer alles besser und hatten für alles schon eine Erklärung, während die Frauen heulten. Doch irgend einmal wurde mir bewusst, dass diese Männer eigentlich litten, sie konnten nicht weinen, sie durften von klein auf nicht schwach oder hilfsbedürftig sein, während das für die Mädchen anders war.

Was sagen Sie Menschen, die zu Ihnen kommen, weil sie von der Wirtschaft ausrangiert worden sind?
Die Frage bleibt, ob diese Menschen noch etwas tun können, das ihren Fähigkeiten entspricht. Vielen gelingt es in dieser Phase zum Beispiel, sich selbständig zu machen oder etwas Neues zu lernen. Aber das gelingt nicht allen.

Wie kann man Menschen helfen, dass sie in dieser Situation nicht verbittert werden?
Ich fühle mich hier zu wenig kompetent. Ich denke aber, dass wir früh genug lernen, nicht nur aus der Arbeit zu leben, sondern dass sich betroffene Menschen zum Beispiel in einer Gruppe zusammenfinden, wo sie eine Kreativität miteinander entwickeln können. Natürlich braucht es dazu oft das nötige Geld. Es geht um ein Problem, das die Leute angehen müssten, die an der Macht sind. Und da sehe ich noch keine Ansätze. Was heute zuweilen mit Menschen gemacht wird, verschlägt einem den Atem. Da werden Menschen von einem Tag auf die Strasse gestellt, die geholfen haben, etwas aufzubauen. Plötzlich wird ihnen eröffnet, sie würden nicht mehr gebraucht. Noch etwas: Das Wort Lebensmitte gefällt mir, da das Beste nach der Lebensmitte kommt.

Was ist das Beste?
Es kann zum Beispiel sein, dass ich gelernt habe, meinen Partner ganz zu akzeptieren, so wie er ist. Wenn ich begriffen habe, dass ich aufhören sollte, ihn erziehen zu wollen. Etwas anderes: Wir sollten merken, dass wir nicht immer alles gemeinsam machen müssen. Wir sollten dem Partner erlauben, etwas für sich alleine zu machen, eine Gruppe zu finden, einen Freund oder eine Freundin. Wir können dann wieder zueinander kommen und einander von unseren Erlebnissen erzählen. Diese Freiheit entsteht erst in der zweiten Lebenshälfte. Hier kann man noch vieles entdecken. Wir können Dinge ausprobieren, die wir vorher noch nicht wagten. Und wir lernen, mit dem zu leben, was nicht gelingt, ohne dass die Welt umfällt. Das Beste ist auch, Versöhnung und Friede zu leben. Aber das kommt erst durch die Krise.

Dr. Ago Bürki-Fillenz ist in Ungarn aufgewachsen, verwitwet und hat vier Kinder. Sie ist Supervisorin für Therapeuten und Therapeutinnen in eigener Praxis. In den vergangenen Jahren arbeitete sie als Paartherapeutin. Andere Arbeitsbereiche waren Paarseminare, Aus- und Weiterbildung von Therapeuten und Supervisoren, etc. Zusammen mit ihrem 2002 verstorbenen Mann Hans F. Bürki baute sie die Casa Moscia auf. Während ihres Psychologiestudiums in Ungarn fand sie zum Glauben an Jesus Christus.

Datum: 23.04.2007
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Bausteine/VBG

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