35 Jahre am Rand der Depression

„Ich bin nicht perfekt, aber wertvoll“

Das Bemühen, es allen Recht zu machen und sich selbst zu genügen, schlägt Stefan schon in jungen Jahren aufs Gemüt. Selbstzweifel drücken ihn nieder, doch er findet keine Worte dafür. Seine Frau ist hilflos. Als sich die Arbeit im Betrieb häuft, droht ein Burnout. „Irgendwann bricht die Kraft ein“, sagt Stefan. „In der Depression verschwindest du von der Bildfläche.“ Er weiss, wovon er spricht.
‚Ich fürchtete zu versagen’: Stefan im Herbst 2005
War während Jahren ratlos angesichts der Depression: Yvonne
‚Irgendetwas hielt mich zurück’: Seit der Krise hat Stefan eine neue Perspektive fürs Leben gewonnen.
Yvonne
Gehen zusammen vorwärts: Yvonne und Stefan.
Sonnenaufgang

Seit ich mich erinnern kann, bin ich immer wieder abgestürzt. Bis 40 hatte ich das Gefühl, ich sei nicht normal. In der Schule war ich immer ein Aussenseiter, ausser wenn jemand keinen Spielkameraden fand; dann war ich der Notnagel. Ich war geduldet, aber nicht akzeptiert. Das zog sich durch. „De chli Steffeli“ – man holt ihn, wenn man keinen Besseren findet. Als Lückenbüsser.

Unsicherheit überspielt

Aus Selbstzweifel entstand Menschenfurcht. Schon als Kind hatte ich Angst vor Anderen. Meine Unsicherheit begann ich mit Gewalttätigkeit und Jähzorn zu überspielen; damit machte ich Eindruck. Ich gehörte zu den muskulöseren Typen. In der Gruppe trumpfte ich auf, als stände ich über der Situation – was nicht der Fall war.

Mit 16 hatte ich den Wunsch nach einer Gesangsausbildung. Aber die Angst vor Neuem und die Selbstzweifel blockierten mich. Das wäre eine Erfüllung für mich gewesen – doch ich verwarf den Gedanken. Die Aufnahmeprüfung für die Kunstgewerbeschule bestand ich – aber aus Angst und mangelndem Selbstvertrauen nahm ich die Gelegenheit nicht wahr. Ich entschied mich für den Schreinerberuf.

Zu langsam im Betrieb

Ich war ein guter Schreiner – aber zu langsam. Jeder Chef drängte mich zu rascherem Arbeiten, und dies führte zu Stress und Fehlern. Nach zwei Jahren hatte ich die Nase voll. Ich nahm eine Stelle als LKW-Chauffeur an. Da bekam ich für meine Arbeit Anerkennung. Ein Vorgesetzter sagte, man merke, dass es mir Freude mache. Ich konnte das Kompliment nicht annehmen.

1988 – ich war 24 – heiratete ich Yvonne. Als 1991 unsere zweite Tochter zur Welt kam, wollte ich mehr Zeit für die Kinder haben. Ich fand eine Stelle in einer Fensterfabrik. Die alten Selbstzweifel führten dazu, dass ich wieder in die Spirale von Leistungsdruck, Stress und düsteren Stimmungen geriet. Nach eineinhalb Jahren verlor ich die Stelle.

Gott sorgt für uns

In der Arbeitslosigkeit erlebte ich, dass Gott für uns sorgt. Mit elf Jahren hatte ich Gott kennengelernt. Nach einer Riesenschlägerei mit einem anderen Knaben entstand mit ihm eine tiefe Freundschaft. Er brachte mich in die Jungschar, wo ich mich Jesus Christus anvertraute. Später gingen Yvonne und ich in eine Freikirche.

Unsere Ehe war in dieser Zeit von Auseinandersetzungen geprägt. Es schien mir, als wolle und könne auch meine Frau mich nicht verstehen. Den Fehler suchte ich bei mir: Du schaffst es nicht einmal, deiner Familie vorzustehen. Heute sehe ich es als Wunder an, dass meine Frau bei mir geblieben ist.

Lässt Gott mich fallen?

Es kam vor, dass ich von einem Moment auf den andern nicht mehr ansprechbar war – für einen Tag, für zwei Wochen. Und auf einen Schlag war ich wieder normal. (Ich wusste immer noch nicht, dass es sich um eine Depression handelte!) In mir griff eine Gleichgültigkeit um sich. Oft sagte ich zu Gott im Gebet: „Ich kann nicht mehr. Wenn du willst, halte mich, bewahre mich – wenn nicht, lässt du mich eben fallen.“

Wir zogen aus dem Berner Seeland in den Aargau um, weil ich dort eine Stelle gefunden hatte. Doch nach wenigen Monaten verlor ich die Arbeit. In der Chemie fand ich wieder eine Anstellung. Die klaren Vorgaben kamen mir entgegen. Und ich bekam Anerkennung, was mir wohltat: Ich konnte doch etwas…

Arbeiten ohne Abschalten

Ein Neubau forderte uns zahlreiche Überstunden ab. Über fünf Monate arbeiteten wir zwölf Stunden täglich – im Minimum. Ich geriet vollends aus der seelischen Balance. Meine Frau Yvonne merkte, dass ich nicht mehr abschalten und mich entspannen konnte.

Dabei war ich noch Hauszellenleiter, einmal im Monat verantwortlich für den Lobpreis im Gottesdienst – und wir führten für ein Hilfswerk eine Kleidersammelstelle. Im Sommer 2004, wenige Monate nach meinem 40. Geburtstag, gab ich die ersten beiden Aufgaben ab, weil ich nicht mehr konnte.

An der Todeslinie zurückgehalten

Seit Monaten hatte ich bloss noch funktioniert. Am 3. August 2004 wusste ich: Ich muss nach Hause, sonst breche ich zusammen. Mit dem Velo fuhr ich heim. Ich war völlig erschöpft; das ganze Leben machte keinen Sinn mehr. Dass ich jetzt hier sitze, ist ein Wunder. Ich überlegte mir, mich von entgegenkommenden LKWs überfahren zu lassen. Ich zog gegen die Strassenmitte – aber irgendetwas hielt mich zurück, ich kam nicht über die Mittellinie. Einmal, ein zweites Mal.

Daheim legte ich mich ins Bett und schlief zwei Tage lang. Yvonne war völlig ratlos; am dritten Morgen rief sie einen Arzt an. Ich hatte kaum Kraft, ihm von mir zu erzählen. Er diagnostizierte eine Erschöpfungsdepression und riet zu einer stationären Behandlung. Dies wirkte auf mich wie eine Befreiung.

Blick in mein Herz

In der SGM-Klinik in Langenthal wirkte Gott an mir. Er gab mir Zeit zur Erholung – ich musste nichts tun. Dazu kamen Gespräche; da lernte ich viel über mein Herz und mich. Ich sah, wie ich mich dauernd eingeigelt hatte. Erst hier begriff ich, dass alle „Tauchgänge“ in der Vergangenheit Depressionen gewesen waren.

Zwei Wochen weilte ich in der Klinik, die Gespräche mit dem Psychologen wurden über sechs Monate fortgeführt. Im Frühjahr 2005 begann ich mit intensivem Nordic Walking. Ich habe über fünf Kilo abgenommen und mein seelisches Gleichgewicht ist stabiler geworden.

Ein vollwertiger Mensch

Heilung geschah – Gott führte mich heraus aus meiner Minderwertigkeit. Heute kann ich sagen: Ich stehe da als vollwertiger Mensch. Wie ist es dazu gekommen? Ich fühlte mich endlich ernstgenommen. Man nahm mich mit meiner Depression an. Die Annahme und Wertschätzung hob mich empor.

Innert weniger Wochen erholte ich mich. Ein Jahr lang nahm ich Medikamente. In der Freikirche betete man anhaltend für mich und meine Familie. Auch das tat mir gut. Heute kenne ich Alarmsignale: wenn ich innerlich den Zwang empfinde, etwas tun zu müssen (so dass ich einfach funktioniere), wenn meine Frau mir meldet, dass ich zuviel arbeite oder gereizter werde, oder wenn ich merke, dass ich über längere Zeit sehr müde bin.

Ich bin nicht perfekt…

Seit dem Sommer 2004 habe ich sehr stark gelernt, auf Gott zu vertrauen. Was ich früher krampfhaft festhielt (etwa dass ich es selbst schaffen müsse und keine Hilfe in Anspruch nehmen dürfe), konnte ich loslassen und Vertrauen einüben. Mit Yvonne spreche ich offen über mich. Meine Selbstzweifel sind zum grössten Teil weg – Gott hat sie mir weggenommen.

Ich bin nicht perfekt, aber ein wertvoller Mensch. Ich spüre, dass Gott die Hand über mich hält wie ein Vater über sein Kind. Gott hat sich als Beschützer gezeigt. Unter seinem Schutz kann ich mit meiner Frau und meinen Freunden entspannt und zuversichtlich vorwärtsgehen.

…aber Gott liebt mich

Dabei kann ich nicht behaupten, dass ich nun keine depressiven Phasen mehr hätte, aber durch psychologische Betreuung sehe ich sie in einem neuen Licht. Vieles habe ich erkannt und berichtigen können. Last but not least habe ich gemerkt, dass Gott auch Menschen liebt, die nicht fehlerlos sind.

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Datum: 27.02.2006
Autor: Peter Schmid
Quelle: Jesus.ch

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