Gesundheit

Habe ich ein Problem oder eine Lösung?

Unter dem Begriff «Recovery» setzt sich ein neues Behandlungskonzept durch, bei dem ein zufriedenes, aktives und hoffnungsvolles Leben im Vordergrund steht – trotz psychischer Probleme.
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Im eigentlichen Wortsinn heisst «Recovery» schlicht «Genesung»; gemeint ist die Zuversicht und das Vertrauen in die Gesundungskräfte im Menschen, selbst in schwierigen Situationen.

Zwei Arten der Problemlösung

In einem Coaching-Kurs hatte ich kürzlich ein persönliches «Aha-Erlebnis». Die Teilnehmenden konnten sich selbst auf zwei verschiedene Arten beraten lassen: einmal konventionell und ein zweites Mal lösungsorientiert.
In der konventionellen Beratung arbeiteten wir analytisch an einem formulierten Problem – so, wie auch ich es aus meiner Berufserfahrung gewohnt bin. In der lösungsorientierten Beratung richteten wir uns konsequent auf meine Ressourcen aus, auf das, was gut funktioniert. Diese zweite Beratung verliess ich zwar nicht mit pfannenfertigen Rezepten. Ich fühlte mich aber im Gegensatz zur ersten Beratungssituation voller Energie und Zuversicht für die anstehenden nächsten Schritte. Die exakte Diagnose der Probleme war zwar interessant, hatte mir aber kaum die Hoffnung vermittelt, dass sich an der Situation in absehbarer Zeit etwas ändern würde.

Die Ausrichtung an der Krankheit

Die klassischen Behandlungsziele in der Psychiatrie sind die Diagnose der Probleme, die Reduktion der Symptome und Massnahmen, um einen Rückfall zu verhüten. Hoffnung auf Gesundung hat unter dieser Perspektive nur eine zweitrangige Bedeutung. Es geht um die Krankheit, nicht um die Gesundheit. Zufriedenheit und eine positive Auseinandersetzung mit der Krankheit sind häufig keine zentralen Therapieziele.
Die aktuelle Forschung zur Lebensqualität psychisch kranker Menschen zeigt nun aber eindrücklich, dass ihre Zufriedenheit nicht in erster Linie davon abhängt, ob die Symptome abgeklungen sind. Viel wichtiger ist, dass sie sich gesellschaftlich integriert fühlen, ihre Krankheit aktiv angehen können und eine Perspektive in ihrem Leben sehen. Bei all diesen Anliegen bietet die konventionelle Psychiatrie wenig Unterstützung.

Die Ausrichtung an der Gesundheit

Ganz anders beim Recovery-Ansatz. Als hilfreich gelten hier das Aufrechterhalten von Zuversicht und Vertrauen in die Gesundungskräfte in jedem Menschen, auch in schwierigen Situationen; Geduld, die genügend Zeit für die Entwicklung und Reifung lässt; die Wertschätzung des subjektiven Erlebens der Betroffenen und ihrer ganz persönlichen Erklärungsmodelle; das Ermöglichen von Wahlfreiheit und Selbstverantwortung sowie die Bereitschaft, sich nicht hinter der Professionalität zu verstecken, sondern sich auf eine wirkliche Beziehung zu den Klienten einzulassen.

Ist «Recovery» ein christliches Konzept?

In der «Stiftung für berufliche und soziale Eingliederung» (sbe) werden junge Menschen mit psychischen Problemen therapeutisch begleitet und beruflich gefördert. Während einer internen Weiterbildung zum lösungsorientierten Behandlungsansatz kam es zu heftigem Widerspruch von einzelnen Mitarbeitenden: Die Ausrichtung auf die «Ressourcen» und «das Gesunde» bei den Klienten sei im Widerspruch zum christlichen Menschenbild.
Die humanistische Psychologie predige die «Selbsterlösung» an Stelle der «Erlösungsbedürftigkeit». Tatsächlich habe ich in unserer Arbeit immer wieder erlebt, dass Menschen nach einer Gottesbegegnung grosse persönliche und therapeutische Fortschritte gemacht haben. Ich befürchte aber, dass bei einer einseitigen Betonung der «Erlösungsbedürftigkeit des Menschen» wirksame therapeutische Methoden übersehen werden. Aus der «Erlösungstheologie» allein sollten nicht einseitige therapeutische Ansätze abgeleitet werden. Schliesslich gibt es ja auch noch die «Schöpfungstheologie»: Wir sind als Menschen trotz unserer Probleme Teil der guten Schöpfung Gottes. Wir haben von daher viele Ressourcen erhalten und dürfen sie dankbar einsetzen. Der Blick auf die Lösung ermöglicht einen neuen Umgang mit den Problemen.

Beat Stübi ist Notfallpsychologe und CEO der «Stiftung sbe» für berufliche und soziale Wiedereingliederung.

Datum: 17.10.2012
Autor: Beat Stübi
Quelle: Magazin INSIST

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