Missbrauch

„Dass in meiner Familie so etwas geschehen ist“

Sie hatte viele Zweifel, ob es wirklich so geschehen war. Sie lebte doch in frommem Haus. Schliesslich akzeptierte sie den Missbrauch.

Die Konfrontation mit missbrauchten Kindern in meinem beruflichen Umfeld löste keine Erinnerungen an meine eigene Biografie aus. Zwar wurde mir bewusst, dass ich durch die Erfahrungen mit meinen eigenen Kindern empfindsamer geworden war für kindlichen Schmerz. Unklar war mir jedoch, warum ich so sehr mit den Kindern litt, die ich zu beraten hatte. Hinzu kam eine lähmende Unsicherheit einigen Vätern und Müttern gegenüber, manchmal bis hin zur Hilflosigkeit. Wochenlanges Nicht-reden-dürfen liess mich zwar ein bisschen zur Ruhe kommen, doch das Nachfragen der Kolleginnen, was mich denn innerlich arbeitsunfähig machen würde, wies ich brüsk zurück. Ich nahm an, dass ich mit meiner neuen Rolle als berufstätige Mutter nicht zurechtkam und schob es auf meinen innerlichen Stress, allen gerecht werden zu müssen, ab.

Verdrängen und vergessen

Im Rahmen einer beratenden Weiterbildung sprach mich ein Therapeut auf meine Wut und mein Angespanntsein an. Ich empfand es als Angriff und Unterstellung und reagierte dementsprechend. Heute bin ich ihm dankbar, weil er in einer einfühlsamen Weise geduldig mit mir die Wut über diesen vermeintlichen Angriff anschaute und mir somit die Möglichkeit gab, mich selbst wahrzunehmen. Ich war nach diesem Gespräch entspannter, zugleich aber auch traurig, erschrocken und unsicher über das, was sich aus meiner Biografie in mein Bewusstsein schob. Die Wut auf meine Eltern, mich alleingelassen zu haben in Situationen, in denen ich sie gebraucht hätte. Missbrauchsituationen in der eigenen Familie, in der Nachbarschaft und später Missbrauch durch einen Chef standen vor mir und wollten verarbeitet werden. Nach über zwanzig Jahren des Verdrängens und Vergessens gaben mir diese Ereignisse eine Erklärung für mein Angespanntsein, für mein Mich-angegriffen-fühlen, Mich-schuldig-fühlen, Mich-nicht-abgrenzen-können und Mich-nicht-wehren-können.

Das Akzeptieren

Was den Missbrauch in der eigenen Familie anbelangt, hatte ich viele Zweifel, ob es wirklich so geschehen ist. Ich empfand es damals als schwerste Aufgabe, mir einzugestehen, dass in meiner Familie, in der meine Eltern und Geschwister als gläubige Menschen aktiv in der Gemeinde mitarbeiten, so etwas geschehen ist. Einige Situationen standen mir jedoch so deutlich vor Augen, dass ich mich im Laufe der Zeit entschied, es als geschehen und zu meiner Geschichte hinzugehörend zu akzeptieren. Heute weiss ich, dass das Akzeptieren ein wichtiger Schritt nach vorn war, da das Zweifeln und Fragen mich blockierten. Die Entscheidung zu einer Therapie im säkularen Bereich fiel mir nicht leicht, da ich unsicher war, ob es mir als Christ hilfreich sein kann.

Neues Vertrauen

Die drei Therapiejahre waren gekennzeichnet von Unsicherheit und Ablehnung gegenüber meinem Mann, bis hin zu Trennungsgedanken, aber auch einem neuen Hinwenden zu Gott. Das Wissen, dass Freunde für mich beten und dass Gott mir beisteht, hat mir Zuversicht geschenkt. Die größte Hoffnung in diesen Jahren gab mir 1. Petrus 5,10: "Gott ... wird euch ans Ziel bringen, euch Kraft und Stärke geben, so dass ihr fest und sicher steht." Gerade in den Wochen, in denen ich mich mit Trennungsgedanken befasste, spürte ich immer wieder im Gottesdienst eine starke Nähe und Wärme zu meinem Mann. Als ich dies als Gottes Reden zu mir verstand, war klar, dass ich nicht gehen konnte. Mir wurde neu bewusst, dass wir unsere Ehe einmal bewusst aus Gottes Hand genommen hatten. Ich wollte Gott ernst nehmen und konnte nicht einfach aus dieser Ehe ausbrechen. Gerade dieser Gedanke hat mich immer wieder weitergehen lassen: Gott hat ein Ja zu mir, und ich hatte einmal ein Ja für Ihn. Das Fragen: "Warum ich? Warum hat Gott das zugelassen?" brachte mich nicht weiter, sondern mein Vertrauen auf Ihn!

Zentraler Schritt

Nach der Therapie wurde mir bewusst, dass ich erst wirklichen innerlichen Frieden bekomme, wenn ich meinen Eltern und den Tätern vergebe. Dieser Schritt hat noch einmal Monate gedauert, denn ehrliches Vergeben beinhaltet nicht nur das Aussprechen, sondern auch das Vergeben leben.


Ulla (Erzieherin in Deutschland)

Datum: 28.03.2002
Quelle: Chrischona Magazin

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