Sekten unserer Zeit

Die grosse Angst vor „Seelenfallen“

Medien, Kirchen und zunehmend auch Politiker warnen vor Sekten und ihren „Seelenfallen“. Im deutschsprachigen Raum gibt es heute immerhin über 600 Sekten oder sektenhafte Sondergruppen.
Sekte

Wenn wir in der Geschichte ein Jahrhundert zurückgehen, entdecken wir eine Zeit, die ebenfalls sehr offen war für neue religiöse Strömungen neben den Kirchen. Die Aufklärung mit ihrer Verstandesdürre und die Kirche des 19. Jahrhunderts, die mit ihrer rationalistischen und seelenlosen Theologie die Gotteshäuser mehr leerte als füllte, sorgten indirekt dafür, dass sich viele Menschen der aufkommenden Esoterik (Geheimlehren) und dem immer bekannter werdenden östlichen Gedankengut zuwandten. Die „klassische“ Sektenszene stammt aus dieser Zeit (Theosophie und Anthroposophie; in der Neuen Welt: Zeugen Jehovas, Mormonen usw.). Diese erste „esoterische Welle“ fand in den letzten Jahren eine „Neuauflage“. Und auch heute kann man den Zusammenhang nicht leugnen: auf der einen Seite eine Welt, die sich vom dürren Materialismus abwendet, und eine Kirche, die die Menschen nicht mehr erreicht; auf der anderen Seite der zunehmende Sektenboom.

Freie Religiosität

Es begann in den siebziger Jahren innerhalb der Hippiebewegung mit den aufkommenden „Jugendsekten“ (Bhagwan, Transzendentale Meditation, Vereinigungskirche Muns, Hare Krishna etc.). Heute haben wir eine Renaissance des Okkulten und Mystischen. Wir haben keine tiefe, sinnsuchende, sondern eine freie Religiosität, die zum Beispiel in Formen wie der New-Age-Bewegung ihren Niederschlag gefunden hat. Verschiedentlich wurde sie schon als „Cafeteria-Religiosität“ bezeichnet. Der individualistische Bürger von heute stellt sich eine Religion quasi auf dem Tablett zusammen. Da haben christliche Gedanken, Reinkarnation (hinduistische Wiedergeburtslehre) , okkulte Lehren und die vermeintliche Heilkraft von Edelsteinen nebeneinander gut Platz. Die Offenheit, gerade für das Esoterische, Geheimnisvoll-Übersinnliche ist so gross wie nie.

Abschied vom Materialismus

Was sind die Gründe für die wiedererwachende Religiosität und für den Hang zum Esoterischen?

- Es gibt ein esoterisches Grundinteresse unserer Gesellschaft. Das rationalistische, ganz auf die Materie bauende Denken wandelt sich zu einem Denken, das Übersinnliches einschliesst. Es ist ein unspezifischer, stiller Wechsel des Weltbildes. Der Satz: „Ich glaube nur an das, was ich sehe“, der Christen in ihrer Wundergläubigkeit früher oft an den Kopf geschleudert wurde, ist bedeutungslos geworden.

- Der Materialismus als Ideologie hat ausgedient. Der Mensch, auf sich selbst reduziert, ist sich zu wenig. Dieses Vakuum zeigt sich jetzt als Suche nach dem transzendenten Gegenüber.

- Soziologen bezeichneten unsere Zeit als „die neue Unübersichtlichkeit“ unserer pluralistischen Welt. In dieser Vielfalt der Meinungen und Richtungen suchen besonders labile Menschen nach einfachen, schlüssigen Antworten. Sekten mit ihrem geschlossenen Weltbild des Schwarz-Weiss-Denkens bieten sie ihnen.

- Unsere unglaubwürdig gewordene Christenheit bleibt Fragen und Leben schuldig. Die Kirchen und Freikirchen sind nicht imstande, das emotionale und religiöse Vakuum vieler Zeitgenossen zu füllen.

- Immer mehr „gesellschaftsgeschädigte“ Menschen und labile Charaktere sind der Fundus, aus denen Sekten ihre Leute rekrutieren. Sekten bieten Heimat für Heimatlose. Psychogruppen jeder Couleur boomen.

Versuch einer Zuordnung

Wie können wir die Gruppierungen und Richtungen einordnen?

1. Etablierte Sekten
Das sind christliche oder esoterische Sekten, die meist im letzten Jahrhundert entstanden sind und sogar im bürgerlichen Leben eine recht grosse Akzeptanz besitzen, so zum Beispiel die Anthroposophen, deren Waldorfschulen als Aushängeschild in der Bevölkerung breite Akzeptanz erlangt haben. Auch die Zeugen Jehovas, die sich in Berlin sogar als Körperschaft öffentlichen Rechts etabliert wissen wollen, gehören in diese Kategorie, genauso wie die Mormonen, die Christliche Wissenschaft, Neuapostolische Kirche usw.

2. Neuoffenbarer
Das sind Sekten, welche aufgrund neuer Offenbarungen der Gründergestalten, die meist noch leben, gebildet wurden. An der Spitze steht in der Regel ein „charismatischer“ Führer, der die Gruppierung straff führt. Sie machen oft laut von sich hören und geraten in ihrer Radikalität, die sie an den Rand des Legalen führt, oft auch in Konflikt mit den Behörden. (Beispiel: fiat lux, Universelles Leben etc.)

3. Ideologische Gruppen
Das sind sogenannte Polit- oder Psychosekten wie Scientology und VPM, die zwar ähnliche Strukturen wie andere Sekten aufweisen, jedoch meist keine religiösen Inhalte vertreten. * So will Scientology die Persönlichkeit des Menschen erweitern. Den Werbespruch „Erweitere dein Potential!“ mit Einstein hat fast jeder schon in Zeitungen entdeckt. Scientology bezeichnet sich allerdings bewusst als Kirche, weil sie unbedingt den Status einer „steuerbefreiten“ Religionsgemeinschaft halten will. In der Schweiz hat die Organisation diesbezüglich einen Erfolg erzielt, als ihr das Bundesamt für Adjutantur ihren „Geistlichen“ – analog zu den Landes- und Freikirchen – die Befreiung vom Militärdienst gewährt. Kritiker werfen Scientology jedoch vor, mit getarnten Geschäftsbetrieben zu arbeiten und massiv überteuerte Psychologiekurse zu verkaufen. **

4. Jugendsekten
Man nennt sie Jugendsekten, weil sie in den sechziger und siebziger Jahren entstanden sind und als Zielgruppe vornehmlich junge Leute ansprachen. Die Hippie-Kultur war offen für fernöstliche Religionen, und so wurden Gurus sozusagen importiert. Sie waren die Ideale vieler jungen Leute. Meist stellen diese Sekten ein Religionsgemisch dar. Fernöstliches ist gut abgemischt und auf die westlichen Bedürfnissen stressgeplagter moderner Zeitgenossen (Meditation, Yoga) zugeschnitten. Hare Krishna, Mun-Sekte, TM und Bhagwan gelten als typische Vertreter. Die Jugendsekten führen immer mehr ein Schattendasein, weil sie durch die totalitären Lebensstrukturen in ihren Gruppen in Verruf gekommen sind. Die engen „Kommunen“, wie sie in der Hippiegeneration üblich waren, sind heute „out“.

5. New-Age und Esoterik
Man kann dies eigentlich nicht als feste Gruppierung ansehen, weil das Gedankengut fast überall mitschwingt. Wir sind jedoch in einer Zeit, in der das Bewusstsein für esoterisches Gedankengut sehr wach ist und viele Menschen sich ihre eigenen Glaubensvorstellungen aus dem ganzen esoterischen Fundus zusammenbasteln. Es handelt sich um eine sogenannte „Patchwork-Religiosität“.

* Dies stellt die „Scientology-Kirche“ wohl in Abrede, indem sie sich bemüht, die öffentliche Anerkennung als „Kirche“ zu erhalten, was ihr nebst den USA, Australien und Südafrika z.B. auch in Schweden gelungen ist.

** was Vertreter von Scientology bestreiten.

Zum Thema
Daran erkennt man eine Sekte
Lothar Gassmann: Was sind Sekten - und was nicht?
Rüdiger Hauth: Kleiner Sekten-Katechismus
Suchen Sie Beratung? www.lebenshilfe.jesus.ch
Dossier Inhaltsverzeichnis: www.sekten.jesus.ch
Bücher zum Thema Sekten: www.shop.livenet.ch/index.html?l=295&k=3

Datum: 26.03.2002
Autor: Horst Scharfenberg
Quelle: Chrischona Magazin

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