Gesellschaft

Teufelskreis Gewalt?

Immer häufiger scheinen Schulen das Ziel von Gewalttätern zu werden. Jüngstes Beispiel ist der Amoklauf von Mitte April an der Virginia Tech Universität, bei dem 32 Menschen ums Leben kamen. Fachleute wie der Psychotherapeut Dr. Ulrich Giesekus befürchten, dass Jugendliche in Zukunft noch häufiger ihre Wut medienwirksam inszenieren.
Ist die Jugend des neuen Jahrtausends bloss noch brutal?
Das aggressive soziale Klima in der Schule, auf dem Heimweg oder in der Gruppe macht Angst.
Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und soziale Herkunft können das zwischenmenschliche Klima beeinflussen.

Ist die Jugend des neuen Jahrtausends bloss noch brutal? Pauschal kann man diese Frage nicht beantwor­ten. Und ob Gewalt heute im Alltag von Kindern und Jugendlichen wirklich häu­figer vorkommt als früher, ist fraglich. Die grosse Mehrzahl der Jugendlichen lehnt Gewalt ab und die Wertvorstel­lungen der derzeitigen Jugend unterscheiden sich nur wenig von denen der Generationen vor ihr, wenn überhaupt. Deutlich aber ist, dass immer öfter die Hemmschwellen von der „Rauferei” zur gefährlichen Körperverletzung überschritten werden. Es scheint, als ob im­mer weniger Kinder ein Gefühl dafür haben, wo die Grenzen zur Brutalität überschritten werden.

Toleranz gesunken

Die Gründe dafür sind vielschichtig. Zum einen haben heute viele Kinder häufig ein sehr schlechtes Empfinden für den eigenen Körper, weil sie sich immer weniger bewegen. Dazu sind nicht weni­ge von ihnen durch Gewaltdarstellungen in Filmen und Computerspielen desensi­bilisiert. Und wie zu allen Zeiten gibt es leider zu viele vernachlässigte und misshandelte Kinder, die wiederum ihre Wut an Schwächeren auslassen.

Allerdings ist in unserer Gesellschaft die Toleranz gegenüber Gewaltanwendung gesunken. So akzeptieren wir in der Regel nicht mehr, wenn Gewalt als legitimes Mittel der Erziehung in Schule und Elternhaus angesehen wird. In meiner eigenen Grundschule wurde Anfang der 60er-Jahre noch der Stock angedroht und auch eingesetzt — auch damals schon ver­botenerweise. Und doch wurde diese schulische „Erziehungsmassnahme” meist ohne Protest von den Eltern tole­riert. Manches, was wir heute richtigerweise als schädliche Gewaltanwendung bewerten, wäre in vorherigen Generatio­nen als „normale Prügelei” oder legitimes Erziehungsmittel akzeptiert worden.

Gewalt geht alle an

Von heutiger Jugendgewalt sind alle Kinder und Teenager betroffen, direkt oder indirekt. Das aggressive soziale Klima in der Schule, auf dem Heimweg oder in der Gruppe macht Angst. Manche schützen sich mehr oder weniger erfolgreich vor Tätlichkeiten, indem sie soziale Anpassung einüben. Nicht selten zu einem hohen Preis: Da versucht zum Beispiel ein Mädchen mit etwas mehr Körpergewicht durch radikales Abnehmen dem gnadenlosen Spott der Mitschüler auszuweichen — und es entsteht eine handfeste Essstörung. Oder auch, indem man sich ausschliesslich teure Markenkleidung zulegt, die soziale Akzeptanz gewährleisten soll.

Kinder wachsen in einer Ellenbogengesellschaft auf, in der verbale und tätliche Gewalt jedem Aussenseiter drohen. Das stört die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Manchmal frage ich mich, wer mehr Schaden erlebt: Die­jenigen, die sich „erfolgreich” durch Anpassung schützen oder die, welche riskieren, durch einen eigenen Stil zur Ziel­scheibe zu werden.

Gewalt-Exzesse: Regel oder Ausnahme?

Amokläufe mit Todesfolgen sind glücklicherweise Einzelfälle. Aber wenn man zum Beispiel — besonders in den USA — beobachtet, in welchem sozialen Klima solche Ereignisse entstehen, wird der „Unterbau” schnell deutlich. Viele Kinder werden durch Medien ständig mit Brutalitäten gefüttert, die oft genug auch noch als „gut” dargestellt werden (das heisst, heldenhaft oder zumindest „cool“). Gleichzeitig wird der psychische Druck auf die Kinder immer grösser: Viele fühlen sich hilflos einer Welt ausgelie­fert, die (zumindest für sie) ausser Kontrolle geraten ist. Und wer den Stress nicht aushält, gilt als Verlierer. Das macht wütend: auf die Schule, auf die Gesellschaft, auf die Eltern. Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten, dass es in Zukunft noch häufiger vorkommen wird, dass Jugendliche ihren Hass und ihre Wut medienwirksam inszenieren.

Bildung und Gewalt

Strapazieren wir einmal mehr die PISA-Studie: Sie machte unter anderem deutlich, dass die soziale Herkunft eines Kindes und sein schulischer Erfolg sehr eng miteinander verwoben sind. Das ist nicht wirklich überraschend: Es leuchtet ein, dass bei sozial schwachen Familien, in denen die Eltern arbeitslos sind oder in der Nähe des Existenzminimum leben, sowohl die schulischen Leistungen als auch das zwischenmenschliche Klima oft schlechter sind. Denn dort kommen nicht nur Gewalt, sondern auch alle anderen Probleme von A wie Alkoholismus bis Z wie Zerrbruch der Ehe häufiger vor.

Der Teufelskreis ist unausweichlich: Schlechte Bildung erzeugt mehr soziales Elend, das wiederum erzeugt schlechte Bildungsvoraussetzungen. Aber umgekehrt gilt auch: Eine gute zwischenmenschliche Atmosphäre ist gut fürs Lernen und wer die Welt besser versteht, ist auch sozial kompetenter. Es macht also keinen Sinn, bei der Frage des Erziehungsauftrages der Schule die sozi­alen Aspekte gegen die Wissensvermittlung abzuwägen. Entweder wir machen beides — oder nichts von beidem.

Ein Klima der Gewalt zerstört Chancen

Und doch ist Gewalt an der Schule kein Phänomen, dem wir hilflos ausge­liefert sein müssen. Wir können Gewalt bekämpfen, indem deutlich wird, dass sie prinzipiell nicht akzeptabel ist, inklusive verbaler Gewalt. Weder im Klassenzimmer, noch auf dem Schulhof, noch auf dem Schulweg.

„Wehret den Anfängen!”, ist in diesem Fall das erfolgreichste Rezept. Es gibt amerikanische Erfahrungen, von denen wir lernen können: Dort gibt es Schulen, bei denen jeder Schüler, der sich an einer Tätlichkeit beteiligt, unausweichlich mit Konsequenzen rechnen muss, indem er zum Beispiel einen Tag vom Unterricht suspendiert wird. Im Wiederholungsfall wird er von der Schule verwiesen. Die gleichen Regeln gelten für den Schulbus, beziehungsweise Schulweg.

Darüber hinaus erhalten die Schüler Unterricht in „Sozialer Kompetenz”. Dort lernen sie unter anderem, wie man einen Streit „mit Würde” austragen kann. An diesen Schulen wurde eine drastische Reduzierung von Gewalt beobachtet — und zwar nicht durch „Selektion” (das heisst, nicht dadurch, dass sozial Schwa­che von der Schule fliegen), und auch nicht durch „Unterdrückung”, sondern dadurch, dass das gesamte Klima gesün­der und angstfreier wurde. Mit dem Ergebnis: Die Schüler werden seltener krank, gehen lieber zur Schule und sind motivierter beim Lernen. Ein gerade abgeschlossener, dreijähriger Pilotver­such in Deutschland hat ähnliche Erfolge zu vermelden (siehe unten).

Es gibt sie also, die Alternativen zur Akzeptanz von Gewalt. Und es gibt auch für Kinder Alternativen zur Ausübung von Gewalt. Die muss man allerdings ler­nen: Konfliktfähigkeit heisst ja nicht, keine Konflikte auszutragen, sondern es richtig zu tun. Dazu brauchen wir Hilfe­stellungen, meines Erachtens sowohl in den offiziellen Lehrplänen, in denen so etwas wie „Soziale Kompetenz” so gut wie gar nicht vorkommt, als auch durch besondere Schulungen für Eltern und Lehrer/innen.

Was können Eltern tun?

Was aber tun, wenn das eigene Kind Opfer von Gewalt geworden ist? Das Wichtigste: Nicht bagatellisieren! Eltern dürfen es nicht ignorieren, dulden oder gar dem Kind die Verantwortung dafür geben, dass es Opfer geworden ist. Sie sollten auf Wiedergutmachung (Entschuldigung, Kostenersatz usw.) durch den Täter bestehen, das Gespräch mit den Erziehungsberechtigten des Täters suchen, und dabei bestimmt und freundlich bleiben. Eltern dürfen nicht selbst aggressiv reagieren und keinesfalls ihrem Kind eine „Gegenaggression” erlauben.

Dazu: Formulieren Sie eine klare Erwartung! Zum Beispiel: „Ihr Sohn hat das Handy unseres Sohnes kaputt gemacht. Bitte sorgen Sie also dafür, dass Ihr Sohn innerhalb einer Woche ein neues oder gutes gebrauchtes Handy besorgt.”

Falls das nicht zum Erfolg führt, sollten Sie mit anderen Verantwortlichen (zum Beispiel mit Lehrern, mit der Schulleitung, falls nötig auch mit der Polizei) reden. Je früher im Laufe einer „Täterkarriere” eine Anzeige bei der Poli­zei geschieht, desto höher ist die Wahr­scheinlichkeit, dass diese Karriere damit endet. Kinder und Eltern befürchten oft, dass diese Reaktion der Eltern dann noch mehr Aggression oder Gewalt einbringt. Aber das passiert in der Realität äusserst selten. Im Gegenteil: Es ist eher das stille Opfer, das sich am besten für Wieder­holungstaten eignet. Darum: Nicht einschüchtern lassen!

„Faustlos“ Gegen Gewalt an Schulen
Ein spezielles Erziehungsprogramm kann Aggressionen und Gewaltbereit­schaft bei Schulkindern reduzieren. Das ist das Ergebnis eines 2002 abgeschlos­senen Pilotversuchs mit 44 Grundschul­klassen in Nordbaden. Deutlich seltener verhaltens­auffällig zeigten sich Schüler, die am dreijährigen Lernprogramm (Titel: „Faustlos”) teilnahmen.Rund 1.000 Kindern wurde nach US-Vorbild in 51 Lerneinheiten soziales Verhalten, Selbstkontrolle und Einfühlungsvermögen vermittelt. Kon­fliktsituationen wurden dargestellt, be­sprochen, im Rollenspiel vertieft und auf Situationen in Schule und Familie übertragen. Eine zweite Chance hat in dem Programm jedes Kind, wenn in der Familie nicht genügend soziale Kompetenz vermittelt wurde. Kinder mit Defiziten können dazulernen, ohne stigmatisiert zu werden. Auch Ängste und Depressionen wurden in der Folge seltener beobachtet. Scheue Kinder hatten an Zuversicht gewonnen – nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause.

Infos zur Prävention
von Gewalt an Schulen bei: Heidelberger Präventionszentrum­faustlos GmbH
Keplerstrasse 1, 69120 Heidelberg Tel. (06221) 91 44 22
E-Mail: info@faustlos.de
Internet: www.faustlos.de

Bearbeitung: David Sommerhalder

Datum: 09.05.2007
Autor: Ulrich Giesekus
Quelle: Neues Leben

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