Kriterien zur Sucht

„Ist unser Kind computersüchtig?“

„Unser Sohn Philipp (14) verbringt am Tag in der Regel sieben Stunden am Computer. Allerdings spielt er nur selten, surft auch nicht im Internet herum, sondern programmiert. So bastelt er zum Beispiel an seiner Homepage oder macht andere ,sinnvolle’ Dinge. Mein Mann findet, dass ich mir unnötig Sorgen mache. Aber ich frage mich wirklich, ob Philipp bereits süchtig ist?“
Ist unser Kind Computersüchtig

Um es gleich vorweg zu sagen: Ob Philipp als computersüchtig anzusehen ist oder nicht, hängt von der Definition ab. Obwohl es unbestritten ist, dass man auch bei den „stoffungebundenen Süchten“ alle Aspekte von Suchtstörungen beobachten kann, gibt es dafür bisher keine allgemein anerkannten diagnostischen Kriterien. Aber: Testen Sie doch selbst, ob die vier Suchtkriterien, die laut der Weltgesundheitsorganisation „WHO“ Süchte ausmachen, zutreffen:

1. Ein unbezwingbares Verlangen zur Einnahme und Beschaffung des Mittels.
2. Eine Tendenz zur Dosissteigerung (Toleranzerhöhung).
3. Eine psychische und meist auch physische Abhängigkeit von der Wirkung der „Droge“.
4. Die Schädlichkeit für den einzelnen und/oder die Gesellschaft.

Das erste Kriterium bedeutet, dass die Person versucht hat, den Konsum (bzw. das Suchtverhalten) zu begrenzen – aber es innerhalb relativ kurzer Zeit wieder zur hohen Dosis kommt. Also, dass man als Süchtiger nicht eine Stunde am Computer arbeiten kann, sondern dass es stets mehr werden als man sich vorgenommen hat. Gab es solche Begrenzungsversuche? Falls nicht, probieren Sie es aus: Vereinbaren Sie mit Philip, dass er an einem oder zwei Tagen in der Woche nur eine Stunde an den Computer darf und dass er selbst auf die Zeit achten muss. Falls ihm nicht gelingt, nach einer Stunde von selbst aufzuhören, ist das erste Kriterium erfüllt.

Das zweite Kriterium bedeutet, dass die Anfangsdosis immer wieder erhöht wurde, bis es zum maximalen Konsum kam. Da Philip vermutlich in die Schule geht, Hausaufgaben macht und auch irgendwann essen und schlafen wird, dürfte er mit sieben Stunden täglich bereits die Maximaldosis erreicht haben.

Das dritte Kriterium bringt mit sich, dass die betroffene Person sich nicht wohl fühlt, wenn das Suchtverhalten aus irgendeinem Grund nicht ausgeübt werden kann. Man ist gelangweilt, vielleicht depressiv oder gereizt, bis man wieder seine Tagesdosis „Bildschirm“ bekommt. Wenn Sie Philipps Computerzeit einschränken, wird er dann unausstehlich und macht Ihnen das Leben schwer? Vielleicht liegt das daran, dass er dann Entzugssymptome hat?

Über das vierte Kriterium werde ich nicht lange spekulieren. Sieben Stunden Computer pro Tag (zusätzlich zum Sitzen in der Schule) sind mit Sicherheit schädlich: für den Körper (Bewegungsmangel, Nacken- und Wirbelsäule, Augen …), für die Psyche (keine Beziehungspflege, die Reduktion der Erfahrung auf Hören und Sehen unterdrückt die emotionale und praktische Intelligenz etc.) und für die Spiritualität (der Computer wird früher oder später zum Götzen, der mein Leben bestimmt). Um die wissenschaftlichen Studien kurz aber richtig zusammenzufassen: Zu viel Bildschirm macht Kinder dumm, faul, dick und depressiv.

Einen wichtigen Aspekt, den Sie nicht unbeachtet lassen sollten, ist zudem, dass Sie als Eltern die Sache sehr unterschiedlich beurteilen und daher sehr uneins sind, wie sie vorgehen sollen. Auch das könnte auf eine typische „Suchtfamilie“ hindeuten: Oft gibt es den „besorgten“ Elternteil, der versucht, das Suchtverhalten einzudämmen; der andere Elternteil hingegen reagiert mit Beschwichtigung und Zweckoptimismus. Daraufhin entwickelt der besorgte Elternteil mit noch grösserem Verantwortungsgefühl, weil er/sie sich nicht ernst genommen fühlt, woraufhin der Partner nur noch weiter bagatellisiert – und schon ist der Teufelskreis perfekt!

Mein Rat wäre, dass Sie zunächst als Eltern einen gemeinsamen Plan machen. Egal, ob Philipp süchtig ist oder nicht: er braucht für seine Entwicklung auch Aktivitäten neben dem Computer (Gemeinschaft, Sport, Zeit zum Lesen, Faulenzen usw.). Helfen Sie ihm, diese Bereiche zu entwickeln, indem Sie den Computer einschränken. An der Reaktion auf Einschränkung werden Sie dann ziemlich deutlich sehen, ob eine behandlungsbedürftige Suchtstörung vorliegt – nämlich, wenn Philips Reaktionen heftig und nachhaltig sind. Dann suchen Sie bitte eine Suchtberatungsstelle auf, die auch Computer-, Internet- und TV-Sucht ernst nimmt. In den vergangenen Jahren ist vielerorts ein Bewusstsein dafür entstanden, dass es echte Suchtphänomene auch ohne Drogen gibt.

Autor: Dr. Ulrich Giesekus, ist Psychologe in freier Praxis in Freudenstadt (Schwarzwald) und Leiter von „BeratungenPlus – Team für Beratung, Schulung und Coaching“ ( www.BeratungenPlus.de )

E-Mail: info@beratungenplus.de

Datum: 05.02.2007
Quelle: Neues Leben

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