Die Eheberater Ruth und Reinhard Egg raten, Vergebung zu
leben, um alte Wunden heilen zu lassen.
Fast hätten sich Elisabeth und Rainer (Namen geändert) getrennt,
weil sich nach 22 Ehejahren schon einiges angestaut hatte. Elisabeth nörgelte
täglich, dass er auch heute noch mehr Freiheiten habe als sie. Oft blieb die
Hausfrau und KV-Teilzeitangestellte mit ihrem 10-jährigen Nachzügler alleine
zuhause, während Rainer seiner Arbeit und seien vielen Hobbys nachging. Rainer
hingegen hatte das gar nie so richtig wahrgenommen. Es war an der Zeit,
Klarheit zu schaffen, befand Elisabeth.
Gott schaut nicht auf die Fehler
«Gott gibt dem Menschen immer wieder eine Chance für einen
Neuanfang», meint der Psychologe Reinhard Egg. Deshalb dürfen auch wir Menschen
dem Gegenüber eine Chance geben. Gott schaut nicht andauern auf unsere Fehler.
Er ist barmherzig und grosszügig. Doch, wenn Vergebung geschehen soll, dann müssen
beide für das Vergangene Verantwortung tragen. Von Vorteil ist es, so der
Psychologe, dass man die wunden Punkte bespricht. Falls dieses Gespräch Druck
auslöst oder ein Teil noch nicht bereit ist, sollte man besser abwarten.
Reinhard Egg: «Wir haben ein Ehepaar in der Seelsorge. Die
Frau kam in eine Aussenbeziehung, die ein Jahr dauerte. Ihr Mann denkt, er
müsse ihr sofort vergeben können, ist aber nicht in der Lage dazu. Das führt
bei ihm zu grossen Wutausbrüchen.» So mache die Vergebung wenig Sinn, plädiert
Ruth Egg.
«Nach einer Verletzung muss auch Wut rausgelassen werden.
Sie muss raus. Deshalb macht eine Vergebung im Vornherein wenig Sinn.» Die
Partnerin, so Ruth Egg, soll auch verstehen können, was in ihrem verletzten
Partner vor sich geht.
Manche vergeben schneller als andere
Vergebung darf in Ver-Geben aufgeteilt werden. Man gibt
einen Teil von sich weg. Klar, dass es auch bedeutet, loszulassen, einen Teil
von sich preiszugeben. Dazu brauche es eine Vorbereitung, Zeit, Überlegungen,
Heilung.
Oft ist es die Tiefe der Verletzung, die die Bereitschaft zu
vergeben beeinflusst. Manche Menschen vergeben eher als andere. Es fällt ihnen
vielleicht leichter oder sie vergeben jemandem, der ihnen im Leben viel
bedeutet. Vergebung darf mit einem langen Trip verglichen werden. Man begibt
sich lange Zeit auf eine weite Reise. Das Ziel ist die Vergebung. Und wenn man
ankommt, legt man das Gepäck ab und befreit sich von den Lasten.
Auch Elisabeth und Rainer wollten sich eine neue Chance
geben und die Flinte nicht einfach ins Korn werfen. Sie setzen sich in einer
Eheberatung zusammen und besprachen detailliert ihre Familienverhältnisse.
Dabei wurde Elisabeth klar, dass sie sich nie richtig durchgesetzt hatte und
für ihre freie Zeit eingestanden war. Ihre unzufriedene Nörgelei hatte sie gar
nicht mehr so richtig wahrgenommen. Rainer hingegen hatte sich an den Zustand
gewöhnt, dass ihm seine Frau den Rücken stets freihielt und dass die
Auswirkungen davon ihre Nörgelei war. Nun war ihm klar, dass auch seine Frau Anspruch
auf freie Zeit und eigene Bedürfnisse hatte. Die beiden konnten neue
Abmachungen treffen und sich vergeben.
Vergebung ist kein Freibrief
Das Ehepaar Egg rät jedoch, die Vergebung nicht als
Freibrief für weitere Verletzungen zu sehen. Die Ansicht, «nun darf ruhig
weiter verletzt werden», ist eine Fehlinterpretation und gefährlich. Dies würde
einem Vertrauensbruch gleichkommen und neue Probleme schaffen. Auch Elisabeth
und Rainer wissen das.
Deshalb wollen sie sich in Zukunft an die Abmachungen halten.