Sexualerziehung

Ermutigung zu ganzheitlichem Menschsein

Wie können Kinder und Jugendliche eine gesunde sexuelle Identität gewinnen? Dieser brennenden Frage geht die neuste Ausgabe der Zeitschrift ‚lebendig’ des Ostschweizer Sozialwerks ‚Stiftung Gott hilft’ nach. Der Pädagoge Bernhard Heusser betont in einem Grundsatzartikel das Vorbild der Erziehenden und die Bedeutung eines geschützten Rahmens – Geborgenheit. Heusser ist Rektor der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik von ‚Gott hilft’ in Zizers bei Chur. Hier der Text, von der Livenet-Redaktion leicht gekürzt.
Bernhard Heusser ist Rektor der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik, Zizers
Ganzheitlich erziehen lernen: Die Höhere Fachschule für Sozialpädagogik in Zizers bei Chur
Gelegenheiten nutzen: Gespräch auf der Schaukel
Knabe und Mädchen

Als Elterngeneration haben wir wenigstens teilweise die „Sexuelle Revolution“ der 70-er Jahre mitbekommen. Seither werden wir und unsere Kinder mit einer Sexualisierung aller älteren und neueren Medien, des Denkens und der Sprache konfrontiert. Was für uns noch neuer Reiz war, gehört für sie zum normalen und prägenden Alltag. Wie gehen wir damit um?

Wie gelingt es uns, Kinder und Jugendliche vor dieser Umwelt zu schützen und sie zu unterstützen, ihnen hilfreiche Werte zu vermitteln und mit ihnen Haltungen einzuüben? Was können wir dazu beitragen, dass sie Sexualität als erfüllendes, erfreuendes Geschenk erleben und sie verantwortlich weitergeben, Sexualität wie der Schöpfer sie gemeint hat, als er den Menschen „als Mann und als Frau schuf“ mit dem Bedürfnis, „einander anzuhangen“ und „ein Leib zu werden“?

Modell sein

Auch die Sexualerziehung beginnt zuerst und immer wieder bei den Erziehenden. Sexualität betrifft uns selbst und gehört zu unserer Person. Wir müsen uns ehrlich und wahr den Fragen um unser eigenes Gewordensein als Mann und Frau stellen:

Wie habe ich meine Eltern in ihrer Geschlechtlichkeit erlebt? Was hat mich in meinem geschlechtlichen Heranwachsen beeinflusst, verletzt und geängstigt? Wie lebe ich mein Mann- oder Frausein zur Zeit? Stelle ich mich auftauchenden Schwierigkeiten, oder verdränge ich sie?

Aus solcher Reflexion müssten gelegentlich Gespräche mit vertrauten, vielleicht seelsorgerlichen Menschen werden, damit ich nicht ein Leben lang einen Rucksack unverarbeiteter Erlebnisse, Gefühle und Hemmungen mit mir herumtrage und weitergebe. Solche Gespräche können uns helfen, dass wir unseren Kindern gegenüber in diesen wichtigen Lebensfragen nicht stumm bleiben.

Sexualpädagogische Probleme der Kinder und Jugendlichen sind in der Regel sexuelle Probleme der Pädagogen. Diese Besinnung und der Austausch zwischen Ehepartnern hilft uns, unsere Sexualität verantwortet zu leben und uns gemeinsam bewusst zu werden, welche Werthaltungen wir unseren Kindern weitergeben.

Dabei geht es nie darum, fehlerfreies Vorbild zu sein. Wir sind behaftet mit Fehlern und Mängeln. Unsere Kinder lernen gerade daran, wie wir mit unseren Fehlern umgehen und mit eingestandenen Schwächen das Leben bewältigen. Wahrheit und Echtheit sind in der sexuellen Erziehung, die für uns und die Kinder etwas Intimes darstellt, die entscheidenden Kriterien.

Leitwerte

Unsere Kinder wachsen in einer Gesellschaft auf, in der sehr vieles möglich und fast alles erlaubt ist. In einigen Bereichen ist dies eine wertvolle Erweiterung der Erfahrungsmöglichkeiten, in vielen anderen aber führt es zur Überforderung, weil Werte, an denen sich das Kind orientieren kann, weithin fehlen. In der Folge sollen zur Anregung und Prüfung ein paar Leitwerte zur Sexualpädagogik skizziert werden.

Wenn Eltern sich gemeinsam dazu stellen, können sie wie Koordinaten sein im Gestrüpp der Meinungen. Sie orientieren sich an einem christlichen Menschenbild:

1. Mann und Frau sind als sexuelle, gleichartige und doch unterschiedliche Wesen geschaffen worden. Sie sind eigenständige Persönlichkeiten, die sich gegenseitig anziehen und ergänzen und einander zur Hilfe, nicht zur Konkurrenz gegeben sind.

2. Sexualität ist etwas Ganzheitliches, das Leib, Seele und Geist betrifft und sie gleichermassen bejaht und schätzt. Sie soll ins ganze Leben integriert und nicht von anderen Bereichen abgespalten werden.

3. Sexualität muss bewahrt und bewährt werden. Sie entwickelt sich gesund in einem Klima von möglichst viel Geborgenheit, Akzeptanz und Verlässlichkeit innerhalb der Familie und braucht einen geschützten Rahmen zur Entfaltung. Klare Ordnungen und Regeln bewahren sowohl den Einzelnen wie die Gemeinschaft. Die herrschende Gesellschaftsnorm kann nicht das Mass für sexuelles Sein und Tun sein; es müssen eigene Überzeugungen gebildet werden. Genitale Sexualität gehört in den geschützten Rahmen einer verbindlichen Beziehung.

4. Kinder und Jugendliche sollen ihre eigenen Stärken und Schwächen kennen lernen und annehmen lernen. Zur Bildung ihrer Identität und Geschlechtsidentität sind Kinder und Jugendliche auf Vorbild und Bestätigung gleich- und gegengeschlechtlicher Bezugspersonen angewiesen.

5. Jugendliche müssen lernen, früh Teilverantwortung für sich übernehmen zu dürfen. Dazu müssen ihnen Freiräume zugestanden werden und sie müssen Offenheit, Wohlwollen und Begleitung der Eltern im Hintergrund spüren, auch wo sie Begegnungen mit dem anderen Geschlecht wagen.

Sexualerziehung ist Erziehung

Sexualerziehung ist in weiten Teilen deckungsgleich mit sehr vielen anderen Anliegen der Erziehung, zum Beispiel:

- In aller Verschiedenheit des Geschlechts, des Alters und des Temperaments versuchen wir, einander immer wieder anzunehmen und ernst zu nehmen, statt uns zu bekämpfen und zu konkurrenzieren. Wir drücken dies auch ermutigend aus.

- Wir pflegen als Eltern und mit den Kindern und Jugendlichen verlässliche, respektvolle und wertschätzende Beziehungen.

- Wir fördern alles, was das Kind/den Jugendlichen in seiner Identität, seinem Selbstwert und seinem Selbstvertrauen stärkt.

- Wir übertragen Kindern und Jugendlichen angemessene Verantwortung in verschiedensten Bereichen.

- Wir fördern in der Familie eine offene Gesprächs- und Zuhörkultur, gerade auch im Ausdrücken von Wünschen, Gefühlen und im Austragen von Konflikten.

- Wir suchen Gelegenheiten, wo unsere Kinder und Jugendlichen eine eigene Meinung entwickeln, einbringen und vertreten können und leiten sie dazu an, ja und nein zu sagen.

- Wir wagen es, unseren Kindern nicht sofort jeden Wunsch zu erfüllen, sondern sie auf die Erfüllung gewisser Bedürfnisse warten zu lassen. Wir freuen uns aber auch gemeinsam über Geschenke und Erfolge und geniessen Schönes und Gutes.

- Wir unternehmen vieles, was die verschiedenen Sinne fördert und die Erlebnisfähigkeit erweitert.

- Wir pflegen als Paar und als Familie altersgemässe Formen von Zärtlichkeit und Nähe.

- Wir fördern und stillen den Wissensdurst unserer Kinder und Jugendlichen auf vielfältige Weise.

All dies stärkt unsere Kinder auch im Umgang mit dem vielfältigen Medienangebot, in der Versuchung durch Suchtmittel oder beim Konsumdruck, dem sie ausgesetzt sind.

Schützen und ermutigen

Am besten werden unsere Kinder geschützt, wenn sie in der Geborgenheit ihrer familiären Umgebung auf die Veränderungen und Entwicklungen vorbereitet werden, die während ihrer Reifung stattfinden. Dies soll nicht in speziellen Aufklärungssitzungen geschehen, sondern dann, wenn vom Kind her Fragen in dieser Richtung auftauchen oder wenn ein äusserer Anlass Gelegenheit gibt, vertiefter mit dem Kind zu sprechen.

Im Grunde genommen kann das Gespräch über den eigenen Körper und die Sexualität nicht früh genug beginnen, da die Kinder sonst von ihrem Umfeld informiert und „aufgeklärt“ werden. Wo sie schon aus geborgener Quelle informiert sind, sind sie geschützter. Es ist wichtig, dass sie ihre Antworten in diesem Bereich ebenso natürlich, offen und selbstverständlich und ohne moralische Wertung bekommen wie in allen übrigen Bereichen. Weiss der Erwachsene etwas nicht, steht er dazu und informiert sich bei nächster Gelegenheit.

Weshalb holen sich viele Jugendliche ihre Informationen bei Dr. Sommer im Bravo? Wohl deshalb, weil sie im Umfeld niemanden finden, der ihnen ebenso direkt und konkret auf das antwortet, was sie im Moment beschäftigt. Eltern könnten es jedoch in angemessener und einfacher Sprache und auf dem Hintergrund verantworteter Werte und eines gelebten Vorbilds tun, wenn sie transparent sind.

Im Umgang der Eltern miteinander soll der Jugendliche erfahren können, wie achtsam und wie zärtlich sie sind, aber auch, dass Sexualität ein positiver, kreativer und wünschenswerter Teil des Lebens ist. Stets sind im Umgang mit Kindern und Jugendlichen ihre Grenzen, die natürlich sich entwickelnde Scham, zu respektieren. Eltern sollen aber auch mögliche negative Folgen von Sexualität wie AIDS, unerwünschte Schwangerschaft und sexuellen Missbrauch thematisieren.

Wenn Jugendliche sich dann zu jungen Männern und Frauen entwickeln, brauchen sie viel Anerkennung und Bestätigung, um über ihre vorübergehenden Unsicherheiten hinwegzukommen: „Du bist gut und wertvoll, wie du bist!“

Ein offenes Haus, wo Freunde und Freundinnen ganz normal zu Spaghetti oder Dessert willkommen sind, hilft dazu, dass auch beginnende gegengeschlechtliche Kontakte natürlich sind und sich nicht im Verborgenen abspielen müssen. In diesen ersten Annäherungen sollen Jugendliche Freiraum, Zustimmung und Ermutigung erfahren.

Dann wird auch eher das Gespräch über sinnvolle Grenzen und das Ausmachen sorgfältiger Vereinbarungen möglich. Wo Eltern in dieser Situation eigene Angst spüren, sollten sie das Gespräch mit Vertrauenspersonen oder anderen Eltern suchen, um wieder freier und unverkrampfter zu werden. Wir Eltern sitzen alle im selben Boot, wir wissen es oft nur nicht voneinander! Das entschärft manche Situation und bewahrt uns davor, misstrauisch überwachend zu werden statt wohlwollend ermutigend.

Gerade wenn wir die Überzeugung weitergeben, dass „wahre Liebe wartet“, sollten wir auch die Ehrlichkeit haben, mit jungen Erwachsenen darüber zu sprechen, dass die Hochzeitsnacht nicht die Erfüllung aller Wünsche ist, sondern dass Liebe ein lebenslanger Lernprozess ist, mit Erfolgen und Enttäuschungen, der sich jedoch lohnt.

Wir sind auch nur Menschen

Wer bis hierher gelesen hat, mag den Eindruck gewinnen, den Ansprüchen sexualpädagogischer Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Niemand macht alles gut in der Erziehung! Wenn Sie Fehler gemacht haben, stehen Sie dazu und leben Sie die neue Erkenntnis. Das ist echter und hilft weiter als alle hehre Theorie.

Es macht auch Ihren Jugendlichen Mut, Fehler zu machen, aufzustehen und es, vielleicht sogar mit wohlwollender Begleitung, neu zu versuchen. Gott vergibt gerne, wir dürfen es gerade in diesem Bereich auch tun.

Ein zweiter Artikel über Sexualaufklärung im Alltag des Schulheims folgt.

‚Gott hilft’ im Internet: www.gotthilft.ch

Autor: Bernhard Heusser
Quelle Text und Fotos: Stiftung ‚Gott hilft’

Datum: 16.03.2004

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