Cool, distanziert - wissenschaftlich?

Eugen Rosenstock-Huessy

Charles Darwin

So wie es ein Freund ausgedrückt hat: "In Amerika kommt zu guter Letzt doch jedermann in den Himmel." Der vollständige Erfolg der Philosophie Deweys zeigt sich am besten darin, dass meine Kritik - vielleicht - annehmbar ist, aber dass meine Aufregung über die schwarzen Herzen ganz und gar fehl am Platze scheint. Solche Ausdrücke überlässt der Gebildete mit bedauerndem Achselzucken den Volksrednern. Weit über seinen eigentlichen Inhalt hinaus hat der Pragmatismus als Stil um sich gegriffen. In der modernen Welt kann die grosse Wahrheit nicht mehr lebhaft verhandelt werden. Ich habe Kollegen so von Gott sprechen hören, als sprächen sie von ein Paar Schuhen. Der schleimige Stil der Gleichgültigkeit und Überlegenheit hat selbst jene besiegt, die Stellungen ausserhalb des Deweynismus einnehmen. Von schwarzen Herzen wird nur der sprechen, den es davor bangt, dass es an seinem eigenen Herzen fehlen könnte. Der Sprecher, der sich dem Ertrinken nahe glaubt, wird laut aufschreien. Unsere Intellektuellen hingegen stehen immer über den Problemen, auf der terra firma ausserhalb des Ozeans der Wagnisse.

Götze Information

So hat es an diesem Punkt keinen Zweck, unsere Analyse des zwischenzeitlichen Amerika mit einer intellektuellen Kritik weiter fortzusetzen. Als ich "schwarze Herzen" sagte, hatte ich bei dem rationalen Kritiker ausgespielt. Er wird nur die Achseln zucken, weil ich nicht wissenschaftlich bin. Ich lade deshalb den Leser zu einer zweiten Runde ein. Das zweite Götzenbild unserer Zeit, an Rang Deweys erzieherisches Glaubensbekenntnis noch überbietend, ist die Information. Die "reine" intellektuelle Neugier wird ganz offiziell von allen unseren Hochschulen gefördert. (Über diesen Punkt sollte man John U. Nefs glänzende Kritik "The United States and Civilisation", Chikago 1942, zu Rate ziehen.) Die Information ist der tödliche Feind aller Wissenschaft, wenn sie aus Neugierde gesucht wird.

Denn die Neugierde führt zu einem Weltbild, das ebenso verzerrt ist wie das Dewey-Konfuzius-Bild von der Gesellschaft. Konfuzius sagte, dass es des Menschen göttliche Bestimmung sei, in der gutgeölten Gesellschaft seine Funktion zu finden. Das neugierige Gemüt hält die draussenstehende Welt für ebenso sinnlos wie das Schlachtfeld, auf dem das Überleben der Stärksten entschieden wird.

Die Wahrnehmung verzerrende Neugierde

Die neugierigen Gemüter sind Darwinisten und sind es immer gewesen, seitdem die Hindus die Welten für unzählige auf- und absteigende Wirbel der Auseinandersetzung hielten. Das einzige, was sie sehen können - hierin besteht das Wesen der blossen Neugier, dass sie das "Sehen" abtrennt und das anstarrende Auge von jeder anderen Art der Einsicht oder Erkenntnis isoliert -, ist kosmischer Staub, der Jahrmillionen vor der Erschaffung der Menschen umhergewirbelt wurde. Im Verlauf dieses Geschehens nahm dann die Staubwolke ganz zufällig verschiedene Formen an, die durch blossen Zufall, nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, anfingen, irgend etwas darzustellen.

Platos Absetzung durch Darwin

Es bedarf einer besonderen Feststellung, um unsere gewohnte Schwerfälligkeit in bezug auf das Weltbild zu erschüttern, auf jene sogenannte Weltanschauung, die 1859 mit Darwins Buch Mode wurde. Denn es wird oft übersehen, dass sich diese Weltanschauung von der Platonischen Naturordnung, an die all unsere Wissenschaftler seit der Renaissance glaubten, völlig unterschied. 1859 hörte das Universum auf, eine Ordnung zu haben. Plato wurde abgesetzt. Die darwinistische Sicht des Lebens ist die des Dschungels und seines endlosen Streites. Mittlerweile ist dies evolutionäre Schema überall eingedrungen. Es wird heute auf dem Marktplatz feilgehalten. Man nennt es das wissenschaftliche Weltbild. Es ist aber wohlgemerkt bloss des Wissenschaftlers Annahme von der Welt.

Erstarrte Lebensvorgänge

Der Wissenschaftler geht von der Annahme aus, dass nichts gegeben ist, ausser den zu beobachtenden Tatsachen ausserhalb unseres Geistes. Aber weshalb macht er diese Annahme? Nur deshalb, um Beobachtungen mit vollständiger Loslösung zu ermöglichen. Wenn einmal diese Annahme der eigenen Abstraktion gemacht wird, dann allerdings können wir nichts weiter als unaufhörliche Bewegung ausserhalb feststellen. Lebensvorgänge nämlich, die mit Distanzierung beobachtet werden, zeigen sich als Bewegungen. Es ist deshalb nicht wahr, dass der Darwinismus bewiesen hätte, die Welt sei rücksichtsloser Kampf. Wahr ist, dass, wenn wir der "Wissenschaft" die Zügel schiessen lassen, die Welt dem Beobachter nur als Urwald erscheinen kann. Sie hat eben von vornherein das Vorurteil: Wie weit komme ich bei "blosser" Beobachtung? Als eine Tendenz unter vielen hat die Wissenschaft die Beobachtung auf die Spitze getrieben; dass Mussolini einen Filmstreifen von der Hinrichtung Cianos anfertigen liess, dass wir unsere Truppen an der normannischen Küste landen sehen können, sind Triumphe kaltblütiger Beobachtung. In diesen Fällen wissen wir, dass die Ereignisse ihre ganze Bedeutung der Kamera nicht preisgeben. Wir müssen die moralische Bewertung hinzufügen. Nun bedeutet aber der Sieg der Entwicklungstheorie, dass diese moralische Bewertung ihren Rang mit der nackten Registrierung der Tatsachen verlor. Wir wurden aufgefordert, uns auf die zu beobachtenden Tatsachen zu beschränken, und man hat unseren Kindern weiterhin nicht gesagt, dass diese blossen Daten nur ein Bruchteil der ganzen Wahrheit seien. Die Welt der Wissenschaft wurde als die ganze Welt angepriesen.

Plato war bestrebt, in die Welt Schönheit, Güte und Wahrheit "hineinzusehen". Aber das war weniger logisch als zu bekennen, dass unsere Sinne nichts weiter wahrnehmen als Quantitäten an Grösse, Gewicht, Ausdehnung und Bewegung. Beobachtung kann niemals die Einheit des Menschen, der Natur und des Universums beweisen.

Der "zivilisierte" Verstand

"Ich bin der Ansicht, dass das Universum aus lauter Punkten und Strichen besteht, ohne Einheit, ohne Fortdauer, ohne Zusammenhang oder Ordnung oder irgendwelche von der Liebe bestimmte Eigenschaften. So behauptet sich die Ansicht über die Ganzheit der Welt in der Tat nur aus Gewohnheit und Vorurteilen." Nach 80 Jahren "reiner" Wissenschaft konnte Bertrand Russel deren Weltanschauung in dieser klassischen Art formulieren. Die Wissenschaft verzichtete seit Darwin auf Einheit. John Dewey verzichtete auf das Leiden als unsere Grundlage zum Verständnis der Welt. Man vergleiche die Worte Oscar Wildes "Das Leiden ist wahrhaftig eine Offenbarung. Man erkennt Dinge, die man nie zuvor erkannt hatte". Um der Einheit willen haben wir all unsere Geschichte seit Christus zu einem gemeinsamen Unternehmen gemacht für alle jene Menschen, die sich zu dieser Einzigkeit bekannten, und um der aus dem Leiden kommenden Offenbarungen willen hatten wir eine Rangordnung der Werte aufgebaut: Je nach dem Grad des Leidens eines Menschen hörten wir auf das, was er zu sagen hatte. Darwin und Dewey haben uns zum Gegenteil überredet. Je weniger wir litten, desto besser. Und je weniger wir uns von uns selbst abwenden würden, desto besser würde das Universum seinen Zweck erfüllen. Wir können jetzt die erstaunliche Macht des modernen Verstandes zusammenfassen. Dieser Verstand hat eine zweiseitige Veranlagung. Er pflegt über nichts in Aufregung oder Schmerzen zu geraten, weil er meint, dass "zivilisiert" sein gleichbedeutend sei mit der Ablehnung alles Heftigen. Wir können alles erfahren, ohne jemals in Aufregung zu geraten. Aber derselbe Verstand sieht die ganze Welt auch die der Mensch, als Urwald voll Zank und Streit an, aus Gier und blinden Leidenschaften bestehend.

Verständnisloses Wissen

Wir kennen bereits die Art der Umgebung, in der die modernen Menschen diese doppelten Merkmale der äussersten Selbstbeherrschung und des äussersten Skeptizismus entwickelt haben. Die schöpferischen Ausbrüche der Menschen wurden hinweggelächelt, und die schönen Inhalte des Universums werden als Wellenlängen entziffert. Einfach durch das Leben in Fabrik und Vorort wird der moderne Mensch täglich in einem diesen zwei Zuständen entsprechenden Lebensstil bestärkt, dem zurückhaltenden, pragmatischen, konfuzianischen Stil des Lebens und LächeIns, Arbeitens und Flüsterns und des Bemitleidens der Dummheiten anderer Leute in ihrem wilden Daseinskampf. Für diesen Menschen kommt die Zukunft stets ganz und gar überraschend. Wie kann es auch anders sein, ist doch die Zukunft die Frucht leidenschaftlichen, dogmatischen, hingabevollen und beredten Lebens. Der Krieg war für den modernen Menschen ein plötzlicher Schrecken. Wie unzivilisiert! Der Bolschewismus war ein Schreck. Gute Absichten, jawohl, aber wie gewalttätig. Hitler war ein Schreck. Ein Geisteskranker, und waren wir nicht etwa alle normal, intelligent und vernünftig? Dieser moderne Mensch berührt mich eigenartig als die seltsame Kombination des bestunterrichteten und höchst überraschten Menschenwesens. Die Öffentlichkeit weiss alles und versteht nichts von dem, was vorgeht. So drehen sich die Sachverhalte, die sie Wissen nennen, um den Lebensunterhalt und Lebensstandard. Aber nichts geschieht durch den Lebensunterhalt; alles dreht sich in Wahrheit um Geburt und Tod. Die Fragen des "Lebensunterhalts" machen nur eine Hälfte des Lebens aus, den sich wiederholenden und vorhersagbaren Teil. Die andere Hälfte besteht aus der qualvollen Schöpfung und der schöpferischen Qual des Sterbens und Geborenwerdens.

Wer nun Wert darauf legt, von den launischen Anfällen der Welt ein bisschen weniger überrascht zu werden und für die nächste Krise ein bisschen weniger unvorbereitet zu sein, mag jetzt vielleicht bereit sein, sich einer einfachen Frage zu stellen: Wie wird die Zukunft erschaffen? Wie kann sie erschaffen werden? Wann wird der blosse Lebensunterhalt weniger wichtig als das Zum-leben-Kommen? Ehe man seinen Blick nicht auf diese Frage richten kann, wird man das Bezugssystem des Vororts nicht verlassen haben. Und ehe man nicht anfängt, um die Rückkehr des Lebens zu bangen, wird man auch nicht der ursprünglichen Frage des Christentums begegnen.

Datum: 28.03.2002
Autor: Eugen Rosenstock-Huessy
Quelle: Des Christen Zukunft oder Wir überholen..

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