Austritte

Kirche für morgen – Klischees von gestern

Grosse Herden, die kleiner werden: Alle Jahre wieder zählen die reformierten Landeskirchen die Austritte. Im Jahr 2003 haben sich erneut mehr Personen verabschiedet, so dass niemand mehr von einer Stabilisierung reden mag. Doch das Klischee der leeren Kirchen, das Medien regelmässig verbreiten, ärgert den Thuner Pfarrer Michael Dähler.
Gottesdienst mit Drittklässlern
Thuner Kirche Strättligen
Pfr. Michael Dähler

In Zürich haben die Austritte von 3259 (2002) auf 3700 zugenommen, in Bern von 2397 auf 3149, im Aargau von 1759 auf 1994. Die meisten Deutschschweizer Landeskirchen verlieren pro Jahr eines von 120-150 Mitgliedern.

Die Eintritte liegen in den Landeskirchen etwa bei einem Zehntel der Austritte. Im multikulturellen Stadtkanton Basel, wo die Kirchenschrumpfung viel drastischer verläuft (ein Grund: die reformierte Kirche schickt eine gesonderte Steuerrechnung), hat sich letztes Jahr eines von 45 reformierten Gliedern verabschiedet. Das schmerzt.

Wie Kirchen unterhalten mit weniger Geld?

Die katholische Kirche Basel-Stadt zählte in den siebziger Jahren 90'000 Mitglieder, nun sind es noch etwas mehr als 30'000. Die 128 Baslerinnen und Basler, die ihr im März den Rücken kehrten, hinterlassen in der Kirchenkasse ein Loch von mehr als 100'000 Franken.

Immer schwerer wird die Last der Kirchengebäude (weiterhin elf), die instandzuhalten sind. 1995 hatten die Katholiken für Sach- und Liegenschaftsaufwand noch neun Millionen Franken zur Verfügung. In fünf Jahren, schätzt man, werden es blosse 3,3 Millionen sein.

Austritt ohne Begründung, ohne Gespräch

Wie das idea-Spektrum schreibt, werden die meisten Austritte nicht begründet. Die meisten Austretenden wünschen gar keinen Kontakt zum Pfarrer, dem sie vielleicht nie persönlich begegneten. Im Kanton Zürich dürfte letztes Jahr der Einsatz des Kirchenrats für das Anerkennungsgesetz einige Kirchenmitglieder befremdet haben, sagte Infochef Nicolas Mori der Zeitschrift.

Kirchliches Leben – im Alltag

Die Medien verdeutlichen den Trend allzugern mit Bildern von Gottesdiensten mit fast leeren Bänken. Dabei sagt die leere Kirche gar nicht soviel über das Leben der Kirchgemeinde aus. Dies ist jedenfalls die Meinung des Thuner Pfarrers Michael Dähler. Der frühere Berner Synodalrat ärgert sich über die abgenutzten Klischees der Berichterstattung in den Medien. Sie berücksichtige nicht, dass sich während der Woche sehr viel ereigne – aber nicht in der Kirche, sondern im Kirchgemeindehaus. Und das schon seit vierzig Jahren.

Der prominente Pfarrer setzt sich gegen den allzubekannten Refrain der Medienberichte zur Wehr. Die Berner Zeitung, die am Karsamstag einen Artikel zum Thema brachte, bezichtigt Dähler in einem Offenen Brief, von dem die Reformierte Presse Auszüge brachte, empört der „Desinformation und der Miesmacherei einer öffentlich-rechtlichen Institution“.

‚Kirchliches Leben in grösster Buntheit’

Dähler zählt auf, was der Reporter landauf landab vorfinden könnte: „Die Kirchgemeindehäuser sind besetzt durch Kleinkinder-, Kinder-, Elterngruppen, durch Kurse christlicher Erwachsenenbildung, durch Jugendliche in der kirchlichen Unterweisung, Jugendgruppen, Jungscharen.“

Der Thuner Pfarrer erwähnt zudem, dass sich viele Kirchen im Jahresverlauf einzelne Male füllen. „Die Vielfalt mit KUW-Gottesdiensten, Jugendgottesdiensten, Meditationsfeiern usw. ist in den letzten Jahren immer reicher geworden.“ Die Umnutzung von Kirchen, die der Artikel in der Berner Zeitung thematisierte, „ist schon längst im Gange, nur wahrscheinlich nicht so, wie Sie es sich wünschen“.

Von Freikirchen lernen

Bei seinem Plädoyer für eine differenzierte Berichterstattung verschweigt Dähler, dass viele Kirchgemeinden bei ihren Aktivitäten jenen Männern und Frauen, die von Herzen an Christus glauben und daraus leben wollen, zuwenig Heimat bieten.

Hier müssen die Landeskirchen von den Freikirchen lernen. Jene Freikirchen, die sich kreativ um Jugendliche und junge Erwachsene bemühen, kommen auch in den Medien vor – ohne das abgegriffene Klischee.

Datum: 13.05.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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