Interview

Wie kann man sich gegen Angst wappnen?

Die Bibel spricht oft eine recht drastische Sprache. Sie ist nicht einfach für liebe und nette Menschen geschrieben. Sie richtet sich oft an Menschen, die Grenzen überschreiten. Feinfühlige und ängstliche Menschen können da erschrecken. Deswegen darf man aber nicht sagen, die Bibel mache Angst. Denn sie will eine frohe Botschaft sein.
Bibel
Dr. med. Samuel Pfeifer

Der Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Sonnenhalde in Riehen, Dr. med. Samuel Pfeifer, äussert sich über die verbreiteten Ängste und was die Bibel dazu sagt.

Andrea Vonlanthen: Gemäss einer Basler Studie leiden deutlich mehr als 10 Prozent der Bevölkerung unter einer chronischen Angstkrankheit. Wird Angst zum neuen Volksleiden?
Samuel Pfeifer: Leiden: ja – neu: nein! Es gibt den Begriff «Zeitalter der Angst». Er stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde bei der industriellen Umwälzung geprägt. Jede Generation lernt Angst neu kennen und hat den Eindruck, es sei noch nie so schlimm gewesen. Früher akzeptierte man Angst als Grundbefindlichkeit. Heute wird sie mit einer Skala gemessen und zur Krankheit umbenannt. Dahinter steckt zum Teil auch das Marketing der Pharmaindustrie. Damit will ich aber das Leiden nicht verharmlosen.

Welche Menschen neigen schneller zur Angst?
Ich denke an feinfühlige Menschen, die sehen, was um sie herum geschieht, und die sich die Not der Menschen zu Herzen nehmen. Ihnen ist die Welt nicht egal. Sie haben das «weiche Wachs der Seele».

Dann müsste auch der Christ schneller zur Angst neigen.
Der Glaube allein macht einen Menschen noch nicht zu einer sensiblen Person. Doch Christen sind bestimmt weniger skrupellos und sozial empfindsamer. Die Bibel sagt uns: «In der Welt habt ihr Angst!» Aber Jesus sagt gleichzeitig: «Seid getrost, ich habe die Welt überwunden!» Wer diese Getrostheit und Hoffnung nicht kennt, der ist anfälliger für die Angst.

Gibt es eine Erziehung, die zur vermehrten Angst führen kann?
Ängstlichkeit hat immer einen vererbten Anteil. Wenn dazu eine Erziehung kommt, die Verbote aufstellt, zu hohe Ziele setzt und das Kind abwertet, kann das natürlich in die Angst treiben. Das gilt auch für eine Erziehung, die keine Grenzen setzt. Wo das Kind keinen Halt spürt, kann die Angst wachsen. Vergessen wir aber nicht, dass es auch einen gesunden Aspekt der Angst gibt!

Wann ist Angst positiv?
Wenn das Kind die warme Herdplatte berührt, wird es beim nächsten Mal durch die Angst bewahrt. Die Gewissensangst ist positiv, wo sie sinnvolle Grenzen zeigt. Sie sagt mir, was gut ist für mich oder für die Gemeinschaft. Für manche Menschen wäre es gut, wenn sie mehr Angst hätten! Ein krasses Beispiel: Die Versuchung, fremdzugehen, könnte durch die Angst, sich anzustecken oder den Partner zu verlieren, vermindert werden.

Wie kann man sich gegen Angst wappnen?
Erstens muss man wissen: Unsere Welt ist nicht sicher. Da darf man sich keine Illusionen machen! Zweitens muss man darauf achten, dass man im Kleinen gewisse Sicherheiten hat: Einen festen Tagesrhythmus oder gute Beziehungen mit Freunden zum Beispiel. Ich darf mich nicht nur um mich selber kümmern! Drittens sollte man sich bewusst sein, was uns inmitten der Angst Hoffnung geben kann. Die Bibel enthält viele Geschichten von Menschen, die Angst überwunden haben. Vielleicht kann man eine Spruchkarte aufstellen und sich einprägen. Und ganz wichtig ist das Gebet! "Not lehrt beten", sagt man. Nur schon ein Stossgebet zum Himmel kann die Angst lindern.

Wo setzen Sie als Arzt an, um dem Patienten aus den Klauen der Angst zu helfen?
Vier Stichworte sind mir wichtig: Diagnostik, Gespräch, soziale Unterstützung und medikamentöse Stabilisierung. Zuerst klären wir ab, in welchen Bereichen Angst besteht und was sie bewirkt. Dann prüfen wir die Möglichkeiten der sozialen Unterstützung, etwa in der Familie und beim Arbeitgeber. Medikamente können schliesslich helfen, stabiler zu werden und den Herausforderungen des Lebens zu begegnen. Aber sie müssen vom Arzt gut überwacht werden.

Auch die Bibel spricht oft von Katastrophen. Wie oft löst sie Angst aus?
Die Bibel spricht oft eine recht drastische Sprache. Sie ist nicht einfach für liebe und nette Menschen geschrieben! Sie richtet sich oft an Menschen, die Grenzen überschreiten. Die Bibel enthält auch Forderungen, wie das Liebesgebot, die man gar nie voll erfüllen kann. Feinfühlige und ängstliche Menschen können da schon besonders erschrecken. Wir dürfen deswegen aber nicht sagen, die Bibel mache Angst. Denn sie will eine frohe Botschaft sein. Wir sehen daraus, dass wir den richtigen Umgang mit der Bibel brauchen, auch die richtige Lehre.

Worüber würden Sie denn predigen in einer Zeit, in der so viele Ängste spürbar sind?
Ich würde über die Hoffnung reden. Sucht nicht nur, was unten, sondern auch, was oben ist! Die Ereignisse dieser Zeit sind ein Aufruf zur Umkehr. Es gilt, sich stärker an den ewigen Werten zu orientieren und zu halten und daraus Kraft zu schöpfen für das Leben in der realen Welt. Wir haben eine Aufgabe in dieser Welt, in dieser Zeit der Angst: Wir sollen selber ein Licht sein und Hoffnung weitergeben.

Was raten Sie einem Kind, das enorm Angst vor der Zukunft hat?
Ich würde zuerst gut zuhören, dann aber auch sagen, dass dies ein Teil des Erwachsenwerdens ist. Ein Rat wäre, mit anderen Menschen Gemeinschaft zu suchen, um den rauen Weg gemeinsam zu gehen, zum Beispiel in einer Jugendgruppe. Ich würde auch die kleinen Lebensängste angehen und nicht nur an den grossen Ängsten hängen bleiben.

Wann ist der Schritt vom Seelsorger zum Arzt ratsam?
Da, wo Menschen in ihren grundlegenden Funktionen deutlich eingeschränkt sind; wenn die Alltagsaufgaben nicht mehr wahrgenommen werden können, wenn die körperliche Gesundheit deutlich gestört ist und zum Beispiel Herzbeschwerden oder Schlafstörungen auftreten; und schliesslich, wenn es zum Rückzug kommt und das Wohlbefinden im psychischen Bereich deutlich eingeschränkt ist.

Wovor haben Sie im Moment die grösste Angst?
Dass sich die Menschen in ihrer Unsicherheit immer stärker einigeln und übermässig versuchen, neue Grenzen und Kontrollen einzurichten. Das Abschotten kann nicht die Lösung gegen Angst sein.

Wie gehen Sie mit dieser Angst um?
Ich bin dankbar, dass ich in meiner Familie eine Grundgeborgenheit haben darf. Ich muss trotzdem wissen, dass immer wieder etwas Schlimmes passieren kann. Aber ich weiss dann auch, dass ich von Gott gehalten bin. Wir haben das beim Tod eines unserer Kinder intensiv erlebt. Wer Schweres erlebt und überlebt, ist anders gewappnet gegen Angst als jemand, der immer wohl behütet war und von allem verschont geblieben ist.

Samuel Pfeifer, Jahrgang 1952, verheiratet mit Annemarie, drei Söhne. Studium der Medizin in Zürich und ergänzende Studien in Psychologie und Theologie in Kalifornien. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Sonnenhalde in Riehen bei Basel. Autor mehrerer Bücher, die in zehn Sprachen übersetzt wurden. Im März erscheint das neue Buch «Der sensible Mensch. Leben zwischen Begabung und Verletzlichkeit.»

Interview: Andrea Vonlanthen

Datum: 17.01.2006

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