Nachgedacht und -geforscht

Warum überhaupt erziehen?

erziehen

Diese Frage stellt sich mir als Vater und Pädagoge immer wieder. Eine unbrauchbare Antwort ist der Vergleich des Erziehers mit dem Gärtner, der ein Bäumchen pflanzt und dessen Stamm an einen festen Pfahl bindet, damit er gerade wächst. Kinder sind keine Bäumchen. Wer das Gegenteil behauptet, steht in Gefahr, Kindern Gewalt anzutun und Erziehung gewaltig zu überschätzen.

Am Anfang steht Gottes Ja

Und warum überhaupt erziehen? Diese zweite Frage kann als Provokation verstanden werden. Mir selber ist vor allem diese Teilfrage zur Herausforderung geworden. Sie hat mich veranlasst, über meine Denkformen, mein pädagogisches Selbstverständnis und die Frage nach dem Verhältnis von Erziehung und Glaube nachzudenken.

Im Bild der Kindertaufe leuchtet eine Antwort auf, die auf einer sehr grundsätzlichen Ebene liegt: In allen oder trotz allen Erziehungsbemühungen und -absichten und in allem Scheitern dieser Bemühungen steht zuerst Gottes Liebe für seine Menschen. Die Kindertaufe kann man als Zeichen für Gottes Ja zum Kind auffassen. Es verweist mich als Erzieher darauf, dass Gott als Schöpfer und Erhalter des Lebens letztlich auch für die mir anvertrauten Kinder zuständig sein will und kann.

Umfassende Erziehung

Wenn hier von Erziehung gesprochen wird, ist damit ein umfassendes Geschehen gemeint: sowohl Denkformen und Werthaltungen, aufgrund derer über Erziehung nachgedacht und geredet wird, als auch die Praxis der Erziehung sind gemeint. Ich spreche bewusst nicht von "Erziehungspraxis". In der heutigen pluralistischen Moderne lässt sich keine einheitliche Praxis mehr ausmachen. Aber Erziehung ist immer auch - und vielleicht zuerst - eine Praxis, eine komplexe und unübersichtliche Handlungsrealität, die sich auf den Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern und auf Formen der Kommunikation und Entscheidungen bezieht.

Erziehung nach meinem Verständnis muss davon ausgehen, dass der Mensch nicht einen "Naturschatz" mit zur Welt bringt, der alles schon enthält, was ihn von selbst zum Menschen macht.1 Jedes Kind ist aber von Anfang an ein eigenständiges Wesen. Dieses steht zuerst in Distanz zu den Erfahrungen und Lernprozessen, die Erwachsene bereits gemacht haben. Erziehung ist gerade deshalb eine unverzichtbare Notwendigkeit und kann nicht ohne Absichten erfolgen, und nicht ohne dass die Zukunft in den Blick genommen wird. Erziehende haben es mit einem Gegenüber zu tun, das es zu respektieren und zu achten gilt und das den Raum der Erziehung braucht, damit es zu einem eigenen Leben finden kann.

Keine Dressur

Erziehung ist weder Defizitbehebung noch Unterstützung von Anlagen, die alle bereits vorhanden wären. Sie ist kein technischer Vorgang im Sinne eines Input-Output-Geschehens und keine Wirkgrösse, mit der sich etwas planmässig herstellen liesse. Der deutsche Pädagoge und Christ Max König schreibt dazu: "Das mag unserem heutigen Denken unangenehm sein, orientiert es sich doch nur allzu gern an messbaren Ergebnissen. Es hängt aber mit dem Wesen des Menschen zusammen: Erziehung muss die Freiheit respektieren: Erziehung muss den Menschen gerade dazu befähigen, selbstverantwortlich zu entscheiden, wer er werden und wie er sein Leben leben will. Deshalb ist sie ja Appell, Hinführung, Begegnung und eben nicht Dressur, Konditionierung, Steuerung. Sie handelt nicht im Horizont genauer Prognostizierbarkeit und Planerfüllung, sondern in der Dimension von Wagnis, Vertrauen und Hoffnung." 2

Pointiert gesagt: Der Erfolg der Erziehung ist nicht kalkulierbar. Sie kann immer auch scheitern. Aber daraus auf pädagogische Abstinenz zu schliessen, wie es die Antipädagogen tun, wäre ein verhängnisvoller Trugschluss. Beides, sowohl eine Erziehungstheorie, die die Erziehung als kausale Wirkgrösse bestimmt, als auch der antipädagogische Angriff auf die Erziehung muss zurückgewiesen werden.

Anti-Pädagogik

Eine der antipädagogischen Hauptthesen lautet, dass Erwachsene nicht erziehen dürfen, weil Erziehung mit einem Herrschaftsanspruch verbunden sei, der zur systematischen Drangsalierung der Kinder und zu einem Krieg zwischen den Generationen führe. Um diesem behaupteten Herrschaftsanspruch zu entgehen, stellen die Antipädagogen das Kind dem Erwachsenen gleich und sprechen von "Beziehung". Aus dem "pädagogischen Bezug", der deutlich hierarchisch strukturiert war, wird der "Dialog", der "herrschaftsfrei" konzipiert wird.

Gibt es aber eine Erziehung ohne "Herrschaftsverhältnis"? Max König beantwortet diese Frage mit einem Nein: "Verzicht auf Fremdbestimmung bedeutet Verzicht auf Erziehung schlechthin. Die Formel: 'Durch Fremdbestimmung zur geordneten (relativen) Selbstbestimmung' mag paradox erscheinen. Aber sie ist richtig. Der Begriff 'Demokratie' passt für das erzieherische Verhältnis nicht, setzt doch der demokratisch-gleichberechtigte Umgang die Mündigkeit aller beteiligten Partner voraus. Das Kind ist noch nicht mündig. Von daher begründen sich Wesen und Auftrag erzieherischer Autorität." 3

Max König beschreibt hier in traditionellen Begriffen das, was mir in den vergangenen Jahren selber wichtig geworden ist: Kinder sind noch nicht Erwachsene, und die Erfahrungs- und Verstehensdifferenzen zwischen Kindern und Erwachsenen erfordern eine pädagogische Stellvertretung.

Erziehende vertreten das Kind

Weil Erziehende verantwortlich sind (in Vorwegnahme der Zukunft), müssen sie stellvertretend für das Kind einstehen und so im Vorläufigen ihres Tuns dafür sorgen, dass die Chancen des Kindes, die es jetzt noch nicht selber wahrnehmen kann, offengehalten und nicht verschüttet werden.

Die meisten erwachsenen Menschen sind sich darin einig, dass die ältere Generation die jüngere erziehen müsse. Ich nenne dies die "Selbstverständlichkeit der Erziehung".

Eine besondere Position der Antipädagogik, welche die "Selbstverständlichkeit der Erziehung" in einem grundlegenden Sinne in Frage stellt, hat Ahron Aviram in seinem Aufsatz "Die Unterwerfung der Kinder"4 dargelegt. Dort fordert er die Übergabe sämtlicher Erwachsenenrechte an die Kinder und damit deren radikale Gleichstellung mit den Erwachsenen. Kinder sollen das Recht haben, frei zu reisen, Verträge abzuschliessen, ihre finanziellen Angelegenheiten unabhängig zu führen, staatliche Unterstützungsbeiträge selber zu erhalten und nach ihrem Wunsch verwenden zu können. Aviram schlägt Strategien vor, wie diese Rechte sukzessive an die Kinder übertragen werden könnten.

Notwendiger Schonraum

Das zentrale Problem seiner Forderungen ist die totale Preisgabe der alten pädagogischen Idee des Schonraumes. Wer diesen preisgibt, behauptet, dass Kinder und Erwachsene sich substantiell nicht unterscheiden. Der Angriff Avirams - und der gesamten Antipädagogik - richtet sich im Grunde genommen gegen die überlegene Position des Erwachsenen, gegen den paternalen Anspruch der Erziehenden. "Paternalismus" ist ein philosophischer Begriff, der den Schutz von Menschen vor sich selbst und gegen ihren Willen bezeichnet. Musterbeispiel ist das Verhalten guter Eltern, die das Wohl ihrer Kinder wollen und stellvertretend im wohlverstandenen Interesse der Kinder entscheiden. Paternalismus kann von daher gesehen im pädagogischen Kontext als "pädagogische Stellvertretung" bezeichnet werden.

Auch gegen den Willen des Kindes

Selbstverständlich wollen und können Kinder - auch schon sehr junge - in vielen Bereichen selber entscheiden. Es ist wichtig, dass Erziehende damit rechnen und kindliche Kompetenzen ernstnehmen. Aber gerade die kindliche "Noch-nicht-Kompetenz" erscheint mir der Angelpunkt des paternalen Anspruchs von Erziehenden zu sein. Und dieser kann in der Folge - im Sinne eines Schutzes vor sich selber und im Sinne der Eröffnung von Lernchancen - gegen Willen und Autonomie des Kindes stehen und die Entscheidung des Kindes blockieren. Der paternale Anspruch ist aber nicht immer gegen die aktuelle Zustimmung und gegen den Willen des Kindes gerichtet. Kinder stimmen der pädagogischen Stellvertretung oft auch zu, wenn sie in einem Vertrauensverhältnis erfahren, dass Erwachsene sich für sie einsetzen, weil sie es selber nicht können. Pädagogische Stellvertretung kann schlicht notwendige Hilfe sein. Sowohl die Stellvertretung gegen den Willen des Kindes als auch die Stellvertretung, die nicht gegen die Autonomie des Kindes gerichtet ist, möchte ich als pädagogische Stellvertretung bezeichnen.

Begründete Stellvertretung

Vier Gründe für eine Erziehung als pädagogische Stellvertretung seien hier aufgeführt:
- Wir müssen erziehen, weil Erziehung als pädagogische Stellvertretung Chancen eröffnet.

Wer wie Aviram die Entfaltung der kindlichen Kräfte erst durch die radikale juristische Gleichstellung der Kinder als möglich erachtet, beschreibt Erziehung ausschliesslich negativ. Ich gehe davon aus, dass das Gegenteil der Fall ist: Pädagogische Stellvertretung eröffnet Chancen, eigene Kräfte zu entdecken und Fertigkeiten zu lernen und diese zu leben. Gerade wo die Verantwortung des pädagogischen Erwachsenen minimiert wird, lauern Gefahren. Der Berner Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers beschreibt dies so: "Wer Erziehung marginalisiert, muss zugleich in Kauf nehmen, dass soziale Räume frei werden für andere Einflüsse, dass die Verantwortungsbereitschaft der Erwachsenen nachlässt und die Fähigkeit, Risiken zu beherrschen, abnimmt." 5

- Wir müssen erziehen wegen der Unterschiedlichkeit von Kindern und Erwachsenen.

Zwischen Kindern und Erwachsenen gibt es - darauf habe ich schon hingewiesen - Verstehens-, Erlebnis- und Erfahrungsdifferenzen. Kinder machen alle Erfahrungen erstmalig und können schon deshalb die Folgen dieser Erfahrungen nicht abschätzen. Auch entwicklungspsychologische Unterschiede widersprechen der These einer weitgehenden Angleichung aller Lebensalter. Wer in antipädagogischer Manier die Überlegenheit der Erzieher künstlich abschaffen will, geht das Risiko ein, das in vielen Fällen hilfsbedürftige Kind sich selber zu überlassen. 6

- Wir müssen erziehen, weil Kinder den Schutz von Erwachsenen brauchen.

Nur durch Erziehung und den Beistand von Erwachsenen können Kinder geschützt werden. Auch wenn es eine rechtliche Gleichstellung der Kinder - im Sinne Avirams - gäbe, wären Kinder dadurch allein nicht vor Gewalt geschützt. Die rechtliche Gleichstellung der Kinder setzt gutartige Umwelten voraus. Doch diese werden selbst in der Ersten Welt immer rarer; auch hier werden immer mehr Lebensbereiche der Kinder eingeschränkt; ein gravierendes Beispiel ist der Strassenverkehr. Dieser Tatbestand beschränkt die vorgestellte "Befreiung" der Kinder und bestätigt den Standpunkt der Stellvertretung.

- Wir müssen erziehen, weil Kinder stabile Vorstellungen der Wirklichkeit brauchen.

Für die Antipädagogen ist die Tatsache, dass es keine Verbindungslinie zwischen Gegenwart und Zukunft gibt, ein Argument gegen die Erziehung. Aber es geht ja nicht darum, dass Kinder das Wertsystem der Zukunft lernen. Vielmehr geht es um den vernünftigen Umgang mit Werten. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Kinder später ihr Wertsystem schaffen können. Erziehung kann nicht die Werte oder den Glauben des Kindes erzeugen; diese Illusion müssen wir auch als Christen begraben. Aber das Kind braucht stabile Vorstellungen der Wirklichkeit - auch der transzendenten Wirklichkeit -, um Vorstellungen von Vertrauen und Verlässlichkeit zu entwickeln.

Eine stabile Vorstellung der Wirklichkeit können Erziehende erst leben, wenn sie ihre Bezüge, ihre Selbstverständlichkeiten und Prinzipien kennen. Denn diese konstituieren das pädagogische Bewusstsein und somit die Identität der Erziehenden. Wir brauchen nicht in erster Linie gute Ratschläge und Ratgeberliteratur (das auch, aber man kann nie wissen, ob man den richtigen Praxisvorschlag gewählt hat), sondern müssen wissen, wo und wie unsere Denkformen und unser pädagogisches Bewusstsein verankert sind.

Behüten und unterstützen

Die Erziehung als pädagogische Stellvertretung soll nun in drei Punkten konkretisiert werden. Der Vorschlag des deutschen Pädagogen Andreas Flitner 7 dient dabei als Grundlage:

- Erziehung ist Behüten des Kindes und Auswahl seiner Lebenswelt.

Das Prinzipielle des Behütens liegt darin, für das Kind einen Lebensraum zu schaffen, in dem es Liebe und Verlässlichkeit erfahren kann und der das Unverlässliche, Spannungsvolle und Irritierende möglichst abschirmt und für eine Zeit in den Hintergrund drängt.

Kinder brauchen Sicherheit, um die Sicherheit verlassen zu können (und das wäre ja ein Ziel der Erziehung); Kinder brauchen Schutz, um die Welt erfahren und erkunden zu können.

Behüten ist eine Notwendigkeit, denn Kinder brauchen einen Schonraum in einer gefahrvollen Welt und müssen vor den Zugriffen der Meinungsmacher und der Konsumwelt mit ihrer akustischen Freiheitsberaubung und den geisttötenden Medienangeboten geschützt werden.

Behüten heisst auch, die geistige Umwelt auszuwählen und der geistigen Umweltverschmutzung entgegenzutreten.

Behüten darf aber nicht zur Behütungsillusion ausarten. Kinder müssen nach und nach in die Welt entlassen und freigegeben werden. Aber sie dürfen nicht fallengelassen und denen preisgegeben werden, die heute nach ihnen greifen.

Behüten können setzt voraus, dass Erziehende das kennen, wovor die Kinder behütet werden sollen. Erst so können sie bestimmen, wie der Schonraum der Kinder aussehen soll, und erst so gelingt es ihnen, zusammen mit den Kindern, den Umgang mit den vielfältigen Herausforderungen zu lernen.

- Erziehung ist Gegenwirkung gegen Einflüsse von aussen oder Neigungen von innen, die dem weiteren Leben des Kindes schädlich sein könnten.

Gegenwirkung erwächst aus einem paternalen Anspruch und ist heikel, weil sie sich den Strebungen des Kindes widersetzt und unter ihrem Deckmantel auch brutale Lenkungsmassnahmen gerechtfertigt werden könnten. Aus genau diesem Grund habe ich die Vorstellung, das Kind gleiche einem Bäumchen, zurückgewiesen. Gegenwirkung richtet sich gegen die kindliche Spontaneität, insbesondere in den Institutionen des Kinderlebens, vorab der Schule. Ein Bildungssystem mit seinen Gegenwirkungen ist jedoch nötig, weil es die Aufgabe hat, eine kulturelle Gemeinsamkeit aufzubauen, ohne die eine Gesellschaft nicht denkbar wäre. Auch die Schule als Institution hat paternale Ansprüche, denn es gibt Anforderungen des Lernens, der Kultur und der Gesellschaft, die nicht einfach den Wünschen des Kindes entsprechen und die durch Gegenwirkung der Erwachsenen und Mitwirkung des Kindes erreichbar gemacht werden müssen. In der Zweipoligkeit der Aufgabe als Gegenwirkung und Mitwirkung wird die willkürliche Verfügungsgewalt der Erwachsenen eingeschränkt.

Gegenwirkung in Form von Strafen geschieht bei Grenzüberschreitungen und ist nur brauchbar, wenn sie den Weg zur Verbesserung weist und unter Mitwirkung des Kindes in die Selbstkorrektur eingebettet ist.

Kindern ist dann geholfen, wenn sie hinter die Grenze zurückkommen, ohne dabei gedemütigt zu werden und ohne dass ihnen willkürlich Schaden zugefügt wird. Damit wird die Möglichkeit des Kindes unterstützt, das Richtige zu tun.

- Erziehung ist Unterstützung der eigentümlich-individuellen und der sozialen Entwicklung des Kindes.

Flitner sagt, Unterstützen sei der wichtigste Teil der Erziehung und heisse, etwas fördern, was ohnehin geschehe.

Auch Erziehung als Unterstützung hat paternalen Charakter: Sie hat den Anspruch, dass das ohnehin Geschehende nicht ausreicht und durch Unterstützung besser zustande gebracht wird als durch blosses Hineinwachsen in die Gesellschaft. Erziehen ist so planvolles Lehren, ist Hilfe bei der Deutung der Welt und unterstützt die Ausformung des Selbst.

Erziehung ist die Unterstützung von dem, was ohnehin, aber nicht ohne den pädagogischen Erwachsenen geschieht. Sie setzt voraus, dass das Selbst des Kindes als etwas Gegebenes angenommen wird, das hilfreich begleitet, aber nicht modelliert werden kann.

Scheitern gehört dazu

Erziehung kann nicht als Wirkgrösse gedacht werden, weil es keine klare Verbindungslinie zwischen Gegenwart und Zukunft gibt. Und trotzdem kann Erziehung nicht darauf verzichten, auf die Zukunft hinzuarbeiten. Sie muss mit guten Wirkungen und mit der späteren Dankbarkeit der Kinder rechnen. Weil diese aber nicht automatisch eintreten, kommen sie als Motive für Erziehung nicht wirklich in Frage. Erziehung ist ein höchst unsicheres und schwieriges Geschäft. Wie also sollen wir dann noch erziehen? Wie sollen wir pädagogische Stellvertretung leben, wenn unsicher ist, wie die Zeit nach dieser Stellvertretung aussieht?

Unsicher und schwierig heisst nicht aussichtslos. Aber eine Sicht der Erziehung, die Unsicherheit, ungewollte Nebenwirkungen und das Scheitern einbezieht, schafft Vorteile für die Handlungspraxis. Der Erziehung - und damit dem pädagogischen Erwachsenen - wird nicht zuviel zugetraut. Das entlastet und verweist wiederum auf das Bild der Taufe zu Beginn dieses Textes, mit dem ich zeigen wollte, dass letztlich nur Gott für die mir anvertrauten Kinder zuständig ist und sein kann. Kinder sind eigenständige und einmalige Wesen, die nicht durch Erziehung hergestellt oder einzig durch sie auf die richtige Bahn gebracht werden. Erziehung kann misslingen - aber das ist für mich als Erzieher, der mit Gott in Beziehung stehen darf, nicht die letzte Grösse.

Weil Erziehung als pädagogische Stellvertretung unsicher ist und dennoch nicht vermieden werden kann, muss ich ein Motiv finden, das mein pädagogisches Selbstverständnis zu sichern vermag. Zu dieser Sicherheit tragen auch Werte, Prinzipien und Denkformen über Erziehung bei, aber vor allem die Verankerung meiner Identität in Christus. Aus der Beziehung zu Christus gewinne ich meine persönliche, aber auch meine pädagogische Identität. So bleibt nicht primär die Unsicherheit der Erziehung. Aus der Beziehung zu Christus kann ich Mut zur Erziehung gewinnen und dabei das Vorläufige meines Tuns zuversichtlich in seine Zuständigkeit geben. Aus der Beziehung zu Christus muss ich das Beste für meine Kinder zu tun versuchen, aber ich kann meine Kinder nicht selber schaffen, weil Erziehung kein Instrument ist. Ich muss mein Erziehersein ernstnehmen und mutig leben, aber gleichzeitig muss und darf ich es loslassen und - zusammen mit den mir anvertrauten Kindern - Gott überlassen.

1 vgl. Martinus Langeveld: Studien zur Anthropologie des Kindes, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1968, S. 13

2 Max König: Lasst die Kinder Kinder sein, Brunnen-Verlag, Giessen und Basel 1989, S. 46

3 Max König: Lasst die Kinder Kinder sein, S. 48

4 Ahron Aviram: The Subjection of Children, in: Journal of Philosophy of Education 24, no. 2 (1990), S. 213-234

5 Jürgen Oelkers: Pädagogische Ethik. Eine Einführung in Probleme, Paradoxien und Perspektiven, Juventa-Verlag, Weinheim und München 1992, S. 83

6 vgl. Helmut Danner: Verantwortung und Pädagogik. Anthropologische und ethische Untersuchungen zu einer sinnorientierten Pädagogik, Hain-Verlag, Meisenheim 1983, S. 263

7 Andreas Flitner: Konrad, sprach die Frau Mama. Über Erziehung und Nicht-Erziehung, Piper-Verlag, München und Zürich 1989, vierte Auflage

Literatur zum Thema

Mill, John-Stuart: Über die Freiheit, Reclam-Verlag, Stuttgart 1991

Oelkers, Jürgen: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Juventa-Verlag, Weinheim und München 1989

Oelkers, Jürgen, und Lehmann, Thomas: Antipädagogik. Herausforderung und Kritik, Beltz-Verlag, Weinheim und Basel 1990, zweite erweiterte Auflage

Kilchsperger, Heiner: Pädagogische Verantwortung, Haupt-Verlag, Bern und Stuttgart 1985

Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a.M. 1990, fünfte Auflage

Rolff, Hans-Günter, und Zimmermann, Peter: Kindheit im Wandel, Beltz-Verlag, Weinheim und Basel 1993, dritte Auflage

Tischler-Noll, Helma, und Noll, Hans-Gerhard: Das Elternseminar. Erziehen und Begleiten, Hänssler-Verlag, Neuhausen-Stuttgart 1992

Wolf, Jean-Claude, Paternalismus, in: Studia Philosophica 49, 1990, S. 49-59

Datum: 26.03.2002
Autor: Beat Spirgi
Quelle: Bausteine/VBG

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