Weihnachten im Gefängnis

Gefängnis

Der Winter mit schweren Schneestürmen kam ins Land. Von der Decke hingen schwere Eiszapfen herab, die Fensterscheiben war zugefroren. Draussen verschlug es einem vor Kälte den Atem. Im Dezember lag der Schnee fast zwei Meter hoch. Man sagte, es sei der kälteste Winter seit hundert Jahren. Heizung gab es nicht, doch inzwischen hatte jeder von uns zwei oder drei Decken anstelle der einen, die einem sonst zustand. Jedesmal, wenn einer im Raum Nr. 4 starb, behielten wir sein Bettzeug. Dann kam eine Kontrolle, und jeder von uns durfte nur eine Decke behalten. Den ganzen Winter über schliefen wir angezogen. Oft gab es kein Brot. Die Suppe aus Karotten, die für den Handel zu minderwertig waren, wurde noch dünner.

Am Heiligen Abend wurden die Gefängnisunterhaltungen zunehmend ernst. Man hörte kein Streiten, kein Fluchen, und nur selten lachte einer. Jeder von uns dachte an seine Lieben. Wir fühlten uns mit der übrigen Menschheit verbunden, die sonst unserem Gefängnisdasein so völlig fern erschien.

Ich sprach über Christus, doch meine Hände und Füsse fühlten sich wie Eisklumpen an, meine Zähne klapperten, der eisige Zugriff des Hungers auf meinen Magen schien sich auf den ganzen Körper auszudehnen, bis schliesslich nur noch das Herz lebendig blieb. Als ich nicht mehr weiterreden konnte, setzte ein einfacher Bauer an der Stelle ein, wo ich aufgehört hatte. Aristar hatte nie eine Schule besucht, doch er sprach mit einer grossen Selbstverständlichkeit und beschrieb das Geburtsgeschehen Jesu so natürlich, als hätte es sich in dieser Woche in seiner eigenen Scheune ereignet. Alle Zuhörer hatten Tränen in den Augen.

An diesem Abend fing im Gefängnis einer an zu singen. Zuerst klang seine Stimme nur leise. Ganz in Gedanken bei meiner Frau und meinem Sohn nahm ich sie anfänglich kaum wahr. Doch allmählich schwoll der Gesang in der klaren kalten Luft zu einer wunderbaren Fülle an. Voll erklang er durch die Korridore. Jedermann unterbrach seine Beschäftigung und hörte zu.

Als der Mann sein Lied zu Ende gesungen hatte, waren alle ganz still. Die Wächter sassen in ihrem Raum dicht um einen Koksofen gedrängt und taten den ganzen Abend keinen Handschlag. Wir begannen uns gegenseitig Geschichten zu erzählen. Als ich um eine Geschichte gebeten wurde, dachte ich an das schöne Lied und erzählte ihnen folgende alte jüdische Legende: Saul, der König von Israel, brachte den Schafhirten David an seinen Hof, der sich durch den Kampf mit Goliath grossen Ruhm erworben hatte. David liebte die Musik, und als er im Palast eine wunderbare Harfe sah, war er begeistert. Saul sagte: "Dieses Instrument war sehr teuer, doch man hat mich betrogen, es gibt nur hässliche Laute von sich."

David nahm die Harfe und probierte sie aus. Er entlockte ihr so herrliche Musik, dass jedermann tief bewegt war. Die Harfe schien zu singen, zu weinen und zu lachen. König Saul fragte: "Wie kommt es, dass alle meine Harfenspieler nur Dissonanzen aus der Harfe herausholen konnten, und nur du sie zum Klingen gebracht hast?" David, der später König werden sollte, sagte: "Vorher hat jeder versucht, seine eigene Musik auf diesen Seiten zu spielen, ich aber habe das eigene Lied der Harfe gesungen. Ich rief ihr wieder ins Gedächtnis, wie sie noch ein junges Bäumchen war, wie Vögel in ihren Zweigen zwitscherten, und die Sonne ihre Knospen zu Sprießen brachte. Und du hörtest die Freude des Bäumchens. Dann erinnerte ich sie an den Tag, da Menschen kamen, um den Baum zu fällen. Da weinte sie unter meinen Händen. Ich erklärte ihr, dies sei noch nicht das Ende. Ihr Tod als Baum sei nur der Beginn eines neuen Lebens gewesen, in dem sie als Harfe Gott preisen könne. Du hast gehört, o König, wie sie da unter meinen Fingern frohlockte." Wenn der Messias kommt, werden viele auch versuchen, auf seiner Harfe ihre eigenen Melodien zu spielen. Doch das wird falsch klingen. Zu seiner Harfe müssen wir sein Lied singen, das Lied seines Lebens, seiner Freude, seiner Passion und seiner Leiden, das Lied von seinem Tod und seiner Auferstehung. Nur dann wird die Musik echt sein.

Solch ein Lied haben wir in dem Gefängnis von Tîrgul-Ocna zu Weihnachten gehört.

Pfr. Richard Wurmbrand (1909-2001) verbrachte insgesamt 14 Jahre seines Lebens wegen seiner Glaubensüberzeugung in kommunistischen Gefängnissen. Nach seiner Entlassung im Jahre 1964 schrieb er rund 20 Bücher. Seine Werke sind in 38 verschiedenen Sprachen erhältlich. Der obige Texte wurde seinem Buch ‚In Gottes Untergrund' entnommen (Erhältlich bei der Hilfsaktion Märtyrerkirche, Zelglistrasse 10, Postfach, 3608 Thun).

Datum: 21.11.2002
Autor: Pfr. Richard Wurmbrand

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