Vor vielen Jahren ...

John B. Keane

Vor vielen Jahren lebte in unserer Strasse eine alte Frau, die hatte nur einen einzigen Sohn, und der hiess Jack. Sein Vater war gestorben, als er noch ein Winzling war, aber Jacks Mutter ging arbeiten, um ihren Sohn und sich selbst durchzubringen.

Als Jack heranwuchs, ging sie immer noch weiter arbeiten, weil nämlich ihr Sohn die Arbeit hasste. Er war nur für drei Dinge gut: für Essen, für Rauchen und für Trinken. Aber um fair zu sein: Niemals schlug oder beleidigte er seine Mutter. Die einzige Missetat war diese: Als seine Mutter zu alt zum Arbeiten geworden war, verduftete Jack nach England. Jahre gingen ins Land, ohne dass sie je eine Nachricht von ihrem einzigen Sohn zu Gesicht bekommen hätte. Immer wenn die Weihnacht nahte, stand sie hinter ihrem Fenster und wartete auf eine Karte oder einen Brief. Sie wartete vergeblich.

Immer wenn Weihnachten in unsere Strasse Einzug hielt, dann erhoben sich überall lautes Gelächter und ein ausgelassener Humor, der alte Wunden heilte und die Herzen von Jung und Alt freudig stimmte. Stellte man sich die Weihnacht in unserer Strasse als Person vor, dann wäre es ein rüstiger Sechziger, strotzend vor Gesundheit, rosig und pausbäckig, mit silbernen Koteletten. Er trüge Gamaschen und einen Tweedanzug und wäre leicht angeheitert. In seinen Taschen klimperten Unmengen von Silbermünzen für die Kinder, und für die Erwachsenen schmisse er eine Party, wo er mit seinem Bäuchlein unter der Weste den Vorsitz führte, Freundlichkeit verströmend, sein Hinterteil gemütlich angewärmt vom knisternden Kaminfeuer.

Dampfender Punsch würde ausgeschenkt für jedermann, es gäbe gebratene Gänse und Enten, goldensymmetrisch dargeboten auf grossen Platten, voll mit Appetit machender Kartoffelfüllung, duftend und fast aus den Bratennähten platzend. Gesungen würde und erzählt und gelacht, aber auch hier und da eine Träne geweint, wenn man auf Freunde in der Ferne anstieß. Geschenke würden ausgetauscht und gute Wünsche für jedermann, wenn Nachbarn sich umarmen und versprechen, sich gegenseitig zu helfen und Gutes zu tun in den nächsten zwölf Monaten.

Aber schau: Weihnachten ist ein Anlass und keine Person. Eine Person kann Dinge tun, verändern oder gar erschaffen - aber all unsere Anlässe sind nur passiv, sie sind das, was wir aus ihnen machen. Deshalb wartete Jacks alte Mutter Weihnacht für Weihnacht auf ein Wort ihres verlorenen Sohnes. An anderen Haustüren wurden dicke Einschreibebriefe abgegeben von lieben Menschen in der Ferne, die an ihre Leute daheim gedacht hatten. Da waren vollgeklebte, verkrumpelte Umschläge aus Amerika mit vornehmen rechteckigen Schecks darin: Augenfreude und Seelenbalsam gleichzeitig. Päckchen und Pakete gab es in allen Formen und Größen, so dass jedes Haus ein regelrechtes Warenhaus wurde - bis der grosse Tag kam, an dem alle diese Güter verteilt wurden.

Nun war es so, dass in unserer Strasse ein Postbote seinen Dienst tat, der viel mehr über die Bewohner wusste als diese über sich selbst. Wenn Weihnachten nahte, war er beladen mit Taschen voller Briefe und Pakete. Die Leute warteten auf sein Erscheinen wie Kinder auf den Bischof am Tag ihrer Firmung. Er war auch nicht abgeneigt gegen ein Gläschen, wo es ihm freundlich angeboten wurde - aber Gläschen oder nicht, der Mann hatte immer ein Gespür für die Bedürfnisse von anderen. In seinem Herzen lebte der Geist von Weihnachten.

Immer wenn er zum Haus kam, wo die arme alte einsame Frau wohnte, kroch er auf allen vieren unter deren Fenster durch. Er brachte es nicht übers Herz, einfach vorbeizugehen und von ihr gesehen zu werden. Er hasste es, Leute zu enttäuschen, besonders alte Leute. Die Frau aber bezog die ganze Woche vor Weihnachten Position hinter ihren verschlissenen Vorhängen und wartete auf den Brief, der niemals kam.

Schliesslich konnte der Postbote es nicht länger ertragen. Am Vorweihnachtsabend lieferte er an unserer Haustür eine ganze Kollektion von Karten und Briefen ab. Einige kamen aus England. Da bat er um einen der Umschläge, nachdem dessen Inhalt herausgenommen war. Er schrieb Name und Adresse um und legte einen Zettel bei mit wenigen Worten und der Unterschrift "Dein Dich liebender Sohn Jack". Dann nahm er eine Zehnschillingnote aus seinem Geldbeutel (damals eine ansehnliche Summe Geldes) und steckte sie in den Umschlag.

Es bestand keine Gefahr, dass die alte Frau die Handschrift irgendwie identifizieren könnte; denn wenn Jack auch einiges konnte (sei es auch sehr wenig, wie schon erwähnt), so konnte er anderes überhaupt nicht, und dazu gehörte Schreiben. Tatsächlich war er nicht einmal in der Lage gewesen, seinen eigenen Namen zu schreiben.

Als der Postbote die Tür der alten Frau erreichte, klopfte er laut und vernehmlich. Als sie öffnete, setzte er seine beste Amtsmiene auf und sagte ganz offiziell: "Bitte unterschreiben Sie hier, Gnädigste!"

Die Alte unterzeichnete und öffnete den Umschlag. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie rief laut aus: "Ich schwöre zu Gott. Jack ist jetzt ein Studierter!"

"Recht haben Sie", sagte der Postbote, "und ich möchte sogar behaupten: Er konnte gar nicht in Verbindung mit Ihnen treten, bevor er nicht schreiben lernte."

"Ich wusste immer, dass ein guter Kern in ihm steckt", erwiderte sie, "ich wusste es immer!"

"In jedem Menschen steckt ein guter Kern, Gnädigste", sagte der Postbote, als er zum nächsten Haus weiterging.

Die Botschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer in unserer Strasse, und in der nächsten und letzten Post vor dem Fest gab es eine ganze Reihe von Päckchen für die alte Frau. Wahrscheinlich war es das schönste Weihnachtsfest, das unsere Strasse je gesehen hat.

Datum: 22.11.2002

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