Weihnachten: Polizistin im Einsatz für Obdachlose

Polizistin Marion Beyer
Seit Jahren verteilt Marion Beyer am Bahnhof Zoo Kleidung an Obdachlose.
Für ihre engagierte Arbeit hat Marion Beyer das Bundesverdienstkreuz vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau erhalten.

Die Vorgeschichte: Berlin im Winter vor Weihnachten. Polizistin Marion Beyer und ihr Kollege haben Nachtdienst. Mit ihrem Streifenwagen sind sie im Stadtteil Friedrichshain unterwegs, als der Funkspruch eintrifft: „Tote Person in der Öffentlichkeit.“

Ein Berliner Bürger hatte von seiner Wohnung aus beobachtet, dass jemand seit drei Tagen in dem Wartehäuschen einer Bushaltestelle liegt. Vermutlich tot.

Als die Polizisten die betreffende Person finden, sind sie erleichtert. Der Mann lebt. Er war weder verletzt noch alkoholisiert. Er hatte nur geschlafen. Marion fragt ihn, ob ihm etwas fehlt und erfährt: Er ist obdachlos. Vor Jahren hat er seine Arbeit als Flugzeugmechaniker verloren. Daraufhin hatten ihn seine Frau und die Kinder verlassen. Für ihn war das der Anfang vom Ende.

Eine halbe Stunde lang unterhält sich die Polizistin mit dem Berliner, dann friert auch sie. Sie möchte den Mann in eine warme Notunterkunft bringen, doch der sträubt sich: „Da werde ich nur beklaut.“ Marion Beyer ist verzweifelt. „Es gab keinen Grund gegen den Mann vorzugehen. Er wollte einfach nicht. Also musste ich ihn schweren Herzens zurücklassen.“ Bei minus 13 Grad.

Kopfschüttelnd und mit Tränen in den Augen steigt die Polizistin wieder in den Streifenwagen. „Fahr erst mal um die Ecke“, bittet sie ihren Kollegen. Dort verliert sie die Fassung und fängt an zu weinen. „Wie kann jemand nur drei Tage lang seelenruhig aus dem Fenster schauen und dabei zusehen, wie ein Mensch auf ,meinen Berliner Strassen’ erfriert?“ Menschlich wie persönlich schmerzt sie das Erlebnis. Ihr Kollege versucht sie zu beruhigen. Doch die junge Polizistin bleibt erschüttert.

„Brauchst du einen Pullover?“

Einige Wochen später steht Marion Beyer nach Dienstschluss am Berliner Bahnhof Zoo. Sie schlendert vor der Bahnhofsmission, dem Treffpunkt für Obdachlose, umher. Über ihrem Arm hängen sieben Pullover und drei Paar Hosen. In ihrem Auto sind noch drei Kisten voll gepackt mit Altkleidern. Es sind die ersten Spenden ihrer Kollegen. Denn auf ihrer Dienststelle hatte sich die neue Nachricht schnell verbreitet: Marion sammelt Kleider für Obdachlose.

In der Bahnhofshalle spricht sie jeden an, der obdachlos aussieht, ob er nicht ein paar warme Sachen haben möchte: „Hallo, ich bin’s wieder, die Moni. Brauchst du einen Pullover? Hier schenk ich dir!“ Völlig überrascht glauben viele der Frauen und Männer zuerst an einen schlechten Scherz – doch dann greifen sie freudestrahlend zu. Diese Freude war für Marion bis heute Grund genug, weiterzumachen. Noch heute ist sie gerührt von dem herzlichen Dankeschön eines 65-jährigen Mannes. Seit Monaten litt er wegen viel zu kleiner Schuhe unter starken Schmerzen. Als er von ihr ein Paar bekam, das passte, bedankte er sich tränenüberströmt: „Engelchen, das ist ein völlig neues Lebensgefühl.“

Kleiderkammer am Bahnhof Zoo

In der Folgezeit sammelt Marion alles, was sie nur kriegen kann: Pullover, Decken, Jacken, Unterhosen, Mäntel, T-Shirts. Einmal wöchentlich fährt sie nun nach Feierabend mit ihrem vollbeladenen Auto zum Bahnhof, um dort die Hilfsgüter an Bedürftige zu verteilen. Schon bald helfen ihr dabei andere Kollegen. Es entwickelt sich durch zahlreiche Kontakte innerhalb der Polizeibehörde ein grosses Netzwerk von Polizisten, Freunden und Spendern, das die Arbeit fortan unterstützt. Ein wichtiger Schritt: Die Gründung des Vereins „Polizisten für Obdachlose“.

„Seitdem wir noch viel mehr Möglichkeiten für unsere Aktionen haben, hängen wir uns einfach noch viel stärker rein“, sagt Marion, „auch wenn es Stress bedeutet.“ Denn der Einsatz am Bahnhof Zoo will erst einmal vorbereitet sein: Kleiderspenden müssen abgeholt, eventuell gewaschen und im Lagerraum sortiert und Autos für den Transport organisiert werden. Doch die Motivation, armen Menschen zu helfen, ist bei der bekennenden Christin viel stärker als der Wunsch nach einem 12-Stunden-Dienst die Füsse hochzulegen: „Es braucht viel Liebe und Überzeugung diesen Dienst zu tun. Und ich wünsche mir, dass gerade diese oft ausgegrenzten Menschen Nächstenliebe erfahren.“

Verteilen mit Herz

Wenn Marion Beyer heute mit ihren sechs Kollegen am Bahnhof vorfährt, werden sie schon von einer Menschenschlange erwartet. Bis zu 120 Obdachlose kommen zu den Verteilaktionen. Einige von ihnen halten extra die Parkplätze frei und helfen beim Ausladen der Kleiderkisten: „Moni, ihr tut so viel für uns. Wenn ihr hierher kommt, dann kümmern wir uns mit drum“, lautet ihre Devise. Schnell sind die Tapeziertische aufgebaut und die Kleidungsstücke sortiert. Jeder kann sich soviel einpacken, wie er möchte. Einzige Bedingung: Jeder, der unbedingt etwas braucht, soll es auch erhalten.

Für viele sind die vierstündigen Verteilaktionen eine willkommene Gelegenheit, um auch der Einsamkeit für ein paar Stunden zu entfliehen. Sie erzählen dann von ihren Problemen, Hoffnungen und den Schwierigkeiten des Strassenlebens. Mit einigen spricht Marion auch über den Glauben. Meist erzählen sie ihr davon, wie sie mit Gott über ihr Schicksal hadern. Doch Marion sieht es kritisch, wenn Menschen alles nur auf jemand anders schieben wollen: „Gott hat uns das Leben geschenkt, deswegen ist jeder auch für sein Leben verantwortlich.“

Sie hilft gern, wenn jemand eine Bibel oder Gespräch braucht, aber als allumsorgende Mutter möchte Marion nicht verstanden werden. Es bleibt deshalb bei der Hilfe zur Selbsthilfe.

Heiligabend am Bahnhof Zoo

Auch das Weihnachtsfest verbringt die Polizistin mit den Obdachlosen. So hilft sie auch immer wieder bei Frank Zanders grosser Weihnachtsfeier mit. Seit 1995 organisiert der prominente Unterhaltungskünstler ein traditionelles Gänsebratenessen für 800 Obdachlose in einem Berliner Hotel.

Die wenigsten der Gäste wissen jedoch, dass die Kellner und Türsteher an diesem Abend Berliner Polizisten sind. Menschen, die sich in ihrer Freizeit dafür einsetzen, dass Obdachlose nicht isoliert leben müssen. So auch am Heiligabend, wenn die Ausgrenzung am stärksten wird. Denn dann steht Marion Beyer wieder am Bahnhof Zoo und verteilt Geschenktüten mit Kerzen, Rasierern und Gebäck. Gemeinsam mit Hunderten von Menschen feiert sie auf der Strasse Weihnachten. Kollegen legen Würstchen auf den eigens mitgebrachten Grill und Oma Beyer schenkt Kartoffelsalat aus. Ein gemeinsamer Gottesdienst mit der Bahnhofsmission bildet den Abschluss. „Letztes Jahr wurde sogar Gitarre gespielt“, erinnert sich Marion, „doch am schönsten war die Freude und Dankbarkeit in den Augen der Menschen.“

Datum: 24.11.2005
Autor: Stefan Rüth
Quelle: Neues Leben

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