Das Holzkreuz - eine Ostergeschichte

Dreieinhalb Jahre später, am ersten Tag nach der bestandenen Töffprüfung, fährt der 18 Jährige mit seiner wassergekühlten Occassion-125iger-Yamaha zum Friedhof.
Beat Ungricht

Auf dem Kalender steht das Jahr 1978. Mirco ist 15 Jahre alt, hat eine Jugoslawische Mutter und einen Vater, der Schweizer ist. Vor drei Jahren hat der Vater sie verlassen. Eine andere Frau hat ihm seinen Vater geklaut. Doch das ist weit weg.

Vor einem Monat standen sie am Grab des Vaters: Er hatte einen schweren Töffunfall nicht überlebt und diese andere Frau schwebte in Lebensgefahr. Es ging ihr eine Zeitlang besser, aber jetzt war sie erneut auf die Intensivstation verlegt worden.

An der Beerdigung konnte er nicht weinen. Er war wie aus Stein. Sein Vater war schon drei Jahre weg - er konnte nicht um ihn weinen. Nur etwas konnte er nicht vergessen: Sein Lehrer, der auch zur Beerdigung gekommen war, wischte sich am Grab seines Vater Tränen ab. Das hatte ihn merkwürdig berührt.

Vor einem Jahr war er aus der Sekundarschule geflogen. Der jetzige Reallehrer war ganz anders. Die Mutter hatte ihm beim Abstufungsgespräch gesagt, dass sie geschieden sei. Mirco hatte immer wieder den Eindruck, dass sich der Lehrer dafür interessiert, wie es ihm geht. Das ärgerte ihn - aber tief im Herzen, unter allem Trotz und aller Wut, berührte ihn diese zurückhaltende Anteilnahme des Lehrers.

Letzthin schrieb Mirco einen Aufsatz über schnelle Töffs. Im Aufsatzgespräch, welches der Lehrer immer mit jedem einzelnen Schülern durchführte, lud ihn der Lehrer ein: "Über das Osterwochenende mache ich eine Töfftour. Wenn du willst, kannst du am Mittwoch den Motoguzzi reinigen und dein Sackgeld ein wenig aufbessern."

Als Mirco den Boliden polierte, überkam ihn eine unglaublich Lust, mit seinen schweren Schuhen auf den Töff einzuschlagen. Irgendwie war es Hass und trotzdem unglaubliche Faszination. Nach getaner Arbeit fragte der Lehrer: Möchtest du mal eine Runde drehen? - Mirco's Augen leuchten. Und schon ging's los. 1978 gab es in der Schweiz noch keine Helmtragepflicht und innerorts durfte man 60 Kilometer pro Stunde fahren. Und so donnerte der Zweizylinder mit dem Lärm eines Maschinengewehrs über die Strassen. Als der Lehrer beim Grünlicht raketenhaft startete, überfiel Mirco eine unglaubliche Todesangst. Nach ein paar Sekunden tanzte die Tachonadel um 100 rum. So musste sein Vater gestorben sein.

Doch merkwürdig - stolz und überglücklich stieg er vom Motorrad - es war eine Begegnung mit seinem Vater. Sein Entschluss stand fest: Ich fahren auch einmal Töff!

Einige Tage später war es Ostersonntag. Seit dem Tod des Vaters, besuchte die Mutter oft die Kirche. Als sie vom Oster-Gottesdienst nach Hause kam, sagte ihr Gesichtsausdruck ihm, dass sie irgendetwas erlebt hatte - aber sie blieb still, wie immer. Der Osternachmittag war langweilig. Alle Freunde waren weg. Mirco hing mit dem Walkmen herum.

Am Abend platzte die Mutter heraus: "Nach Ostern besuche ich die Freundin deines Vaters im Spital und ich möchte, dass du auch mitkommst!" - Mirco wütete: "Ich hasse sie! Ich komme nicht mit!"

Es nützt nichts, der Dienstag kommt. Heute ist Dienstag. Im Spital nehmen sie das Treppenhaus. Vier Stockwerke sind es. Die Mutter ist eine ganze Treppe voraus. Jeder Tritt ist ein Berg. Mirco's Herz ist hart. Wie soll er dieser Frau begegnen, die ihm sein Vater geklaut hat? Was soll er sagen, das ist doch peinlich!

Sie kommen vor die verschlossene Tür der Intensivstation. Nur Verwandte dürfen hier Besuche machen. Das wussten sie nicht. Ratlos stehen sie da.

In diesem Moment geht die Lifttür auf und Mirco's Lehrer steht vor ihnen. Alle sind überrascht und fragen gegenseitig: Was machen sie denn hier? - Der Lehrer antwortet: Ich weiss, weshalb ihr hier seid. Kommt wir setzen uns in den Aufenthaltsraum, damit wir reden können.

Mitten in dieser Raucherhöhle des Spitals erfährt Mirco nun ein nie erahntes Geheimnis: "Mirco, die Frau, die ihr besuchen wollt, ist meine Schwester. Sie hat deinen Vater vor einigen Jahren kennengelernt. Als du vor einem Jahr in meine Klasse gewechselt hast, habe ich das bald herausgefunden und als wir vor einem Monat am Grab deines Vaters standen, habe ich mit euch getrauert."

Bei Mirco laufen wie im Film die letzten Monate durch. Auf einmal versteht er, weshalb der Lehrer ihm auf diese Weise begegnet ist. Schon verrückt - diese ganze Geschichte, denkt er.

Dann stehen sie am Bett der schwer verletzten Frau. Sie kann nur ganz leise flüstern. Aber sie erkennt die Situation auf Anhieb. "Es tut mir so leid!" Tränen kullern ihr aus den Augen, laufen ihr über die Wangen. Sie kann sie nicht abwischen. Nochmals ganz schwach: "Es tut mir so leid!" Die Tränen werden zu einem kleinen Bach. Sie ist erschöpft, schliesst die Augen. Niemand kann sprechen.

Doch plötzlich reisst sie die Augen weit auf, versucht die Hand von Mirco's Mutter zu nehmen und sagt einfach "Bitte!" "Bitte!"

Mirco's Mutter weiss seit dem Oster-Gottesdienst, weshalb sie diesen Besuch machen will. Sie will vergeben.

In gebrochenem Deutsch flüstert sie: Im Gottesdienst an Karfreitag, habe ich erlebt, wie Jesus Christus für unsere Sünden gestorben ist. Jesus sagte zu mir: Vergib ihr! Hasse sie nicht länger! - aber ich konnte noch nicht kommen. Ich hatte keine Kraft. An Ostern im Gottesdienst da war es mir, als würde ich wie die Maria am Grab den lebendigen Jesus sehen. Ich habe diese Kraft von Gott gespürt. - Deshalb bin ich jetzt hier und bringe ihnen dieses kleine Holzkreuz mit. Gott hat mir gesagt, dass ich ihnen vergeben soll. Deshalb sage ich das ihnen jetzt: Ich vergebe ihnen und ich vergebe auch meinem Mann.

Mirco steht am Fussende des Krankenbettes und musse sich mit beiden Händen festhalten. In ihm dreht sich alles. Er sieht, wie der Lehrer die Tränen abwischt, wie damals am Grab. Und plötzlich spürt er, wie seine eigenen Hände nass werden. Er merkt: Ich weine ja! Aber irgendwie schämt er sich nicht. Er sieht, wie seine Mutter, das kleine Holzkreuz in die Hände von Lisa legt - so heisst die Freundin seines Vater. Sie liegt mit offenen verweinten Augen und einem strahlenden Gesicht da. Irgendwie scheint sie ihm auf einmal so lebendig, ganz anders, als vorher, wo sie wie halbtot im Bett lag.

Mirco hört den Lehrer beten: Vater, unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Gib uns unser tägliches Brot. Vergib uns unsere Sünden, so wie wir denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind...

Mehr hört er nicht mehr. Fluchtartig verlässt er das Zimmer, rennt aus dem Spital, rennt und rennt. Ganz allein irgendwo im Wald wirft er sich zu Boden und schreit laut ins nasse Laub. Der Schmerz der letzten Jahre bricht aus ihm heraus, der Schmerz des verlorenen Vaters, des Todes, der ganzen Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe und Vorbild. Er vermisst seinen Helden auf dem Motorrad. Hier auf diesem Waldboden stirbt vieles in ihm drin und er stirbt mit. Alles Leid kann aus ihm herausströmen. All das Tote wird herausgeschwemmt.

Im April ist es auf dem Waldboden kalt. Aber ihn durchzieht eine Wärme, wie er sie noch nie gekannt hat. Von innen her. Lange liegt er hier, das Schluchzen verbebt. An einem Weidezaun findet er eine Schnurr und bindet zwei Stecken zu einem Kreuz zusammen. Am Waldrand wärmt die Frühlingssonne wärmt seine Seele. Sicher zwei Stunden sitzt er da. Mit dem Kreuz in den Händen flüstert er immer und immer wieder: Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme. Gib uns unser tägliches Brot. Vergib uns unsere Sünden, so wie wir denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind. Vergib mir, so wie ich Lisa, Vater und Mutter vergebe...

Langsam schlendert er nach Hause. Er spürt, wie Jesus neben ihm geht. So leicht, so neu, so erfüllt, so froh ist sein Herz. Noch nie hat er so etwas gefühlt. Noch nie hat er Gott so geliebt.

Mutter ist nicht Zuhause. Er reisst die Poster über seinem Pult hinunter und hängt das grosse Kreuz so auf, dass er es immer vor Augen hat. "Ich lebe - Dienstag, 11. April 1978!" schreibt er auf einen Zettel und hängt ihn ans Kreuz.

Dreieinhalb Jahre später, am ersten Tag nach der bestandenen Töffprüfung, fährt der 18 Jährige mit seiner wassergekühlten Occassion-125iger-Yamaha zum Friedhof. Er hat sein Kreuz bearbeitet und gut lackiert, damit es wetterfest bleibt. Vor dem Grabstein seines Vaters macht er ein Loch in die Erde und gräbt sein Kreuz gut ein.

Lange Jahre fragten sich Besucher auf diesem Friedhof, weshalb vor dem Grabstein dieses einfache Holzkreuz stand. Nur wer sich wirklich hinunterbeugte sah, dass auf dem Kreuz ganz fein eingeritzt war: Danke, Vater - dein Mirco! und noch kleiner darunter: Johannes 3,16.

Diese Geschichte ist für mich ein Gleichnis von der Kraft des Kreuzes! Sie soll für sich alleine sprechen!

"Denn ich kenne doch die Gedanken, die ich über euch hege, spricht der Herr, Gedanken des Friedens und nicht des Unheils, um euch Zukunft und Hoffnung zu gewähren. Ruft ihr mich an, geht ihr hin und betet zu mir, so werde ich auf euch hören. Sucht ihr mich, so werdet ihr finden. Ja, fragt ihr nach mir mit eurem ganzen Herzen, werde ich mich von euch finden lassen. Ich werde euer Geschick wenden." (Die Bibel, Jeremia, Kapitel 29, Verse 11-14, leicht gekürzt)

Autor: Beat Ungricht

Das Ostern-Magazin von Jesus.ch: www.jesus.ch/ostern

Datum: 08.04.2007

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