Kreuzweg in Ecuador

Beat und Katharina Hauri mit Ihren Kindern

Morgens um sechs öffne ich die Tür unseres Tagesheims. Früh genug, damit die Mehrzahl unserer Eltern die Kinder abgeben und rechtzeitig zur Arbeit auf den umliegenden Rosenplantagen erscheinen kann. Das erste Tageslicht fingert derweilen über die hohen Pàramohügel südlich der staubigen Provinzstadt. In sanften Bronzeglanz getaucht, stehen sie jeweils vor dem strahlendblauen Andenhimmel.

Grautöne hat unser nordecuadorianischer Alltag ebenfalls reichlich zu bieten. Während sich in einem Nebenraum bereits eine ansehnliche Kinderschar fröhlich schwatzend die Zeit vertrieb, klopfte es erneut an die erdfarbene Blechtür. Als ich öffnete stand die vierjährige Morella in Tränen aufgelöst an der Hand ihres älteren Bruders vor mir. ”Was ist geschehen’” fragte ich. ”Meine Mami …”, schluchzte die Kleine bloss, während ihr Bruder sie tröstete. ”Mami ist in Spanien. Du kannst noch ein wenig länger in der Guardería bleiben.” – ”Ein wenig länger in der Guardería bleiben”, wiederholte Morella. Ich nahm das Mädchen an der Hand, führte es zu den anderen Kindern und umarmte es. Nach einer Weile zitterte sie nicht mehr und setzte sich hin. Ihre Mutter ist um einer besseren Zukunft willen nach Spanien gereist. Was ist mit der Gegenwart? Morellas Kinderwelt liegt in Trümmern.

Die ecuadorianische Migrationstragödie hat eine weitere Familie erreicht. Das von Misswirtschaft und Korruption gebeutelte Andenland entvölkert sich zusehens. Im Juli werden die ersten Ergebnisse der letzten November durchgeführten Volkszählung veröffentlicht. Je nach Quellen haben in den vergangenen zehn Jahren 150.000 bis eine Million Ecuadorianer das Land für immer verlassen. Morella ist mehr als ein Statistikelement. Sie ist ein junger Mensch mit Ängsten, Rechten und Bedürfnissen. Ihr Zittern und Weinen sind bloss eine Ausdrucksform dessen, was in ihrer Seele geschieht. Die Abwesenheit ihrer Mutter wird für sie zu einem Kreuzweg über unzählige Stationen hinweg. Was den materiellen Aspekt betrifft, wird ihr Leben zweifellos mit weniger Dornen bestückt sein. Aber die fehlende Mutter ist ein Lanzenstoss in die Seite, der eine tiefe Wunde in ihr hinterlässt. Ihr Herz blutet, während sie bares Wasser weint. ”Mein Gott, mein Gott, warum hat Du mich verlassen!” schreit der sterbende Jesus am Kreuz. Ein Blick in Morellas Augen lässt dieselbe Verlassenheit erkennen.

Der Trennungsschmerz verwandelt sich bei einigen unserer Tageskinder, die einen oder beide Elternteile für ein paar zusätzliche Dollars opfern mussten, oft in Aggressivität. Henry und Angel stritten sich kürzlich so grässlich, bis einer der beiden weinte. Ich nahm die Jungs beiseite, legte meine Arme um sie und sagte: ”Tut das nicht. Ihr braucht einander mehr denn je. Eure Eltern sind nicht da. Unterstützt einander.”

Von zehn der durchschnittlich 125 Kinder, die wir täglich betreuen, sind im letzten halben Jahr einer oder beide Elternteile ins Ausland gereist. Die Sogwirkung hält an. Von mindestens vier Kindern wissen wir, dass entsprechende Pläne gemacht werden. Der ecuadorianische Personalausweis muss bald eine zusätzliche Angabe zum Familienstand einfügen: Migrationswaise.

Wenn ich Morella morgens in den Armen halte, weiss ich, weshalb ich hierher kam: für Kinder wie sie. Ich kann ihre Mutter nicht ersetzen. Aber beten, dass Gott durch mich wirkt. ”Ich will euch trösten wie eine Mutter ihr Kind”, hat er versprochen. Möge er der Kleinen begegnen. Vielleicht in meinen Armen.

Peter und Katharina Hauri sind Schweizer Heilsarmeeoffziere in Cayambe. Seit August 1999 leben sie mit ihren beiden Söhnen Lucas Martin (6) und Andres Noé (4,5) in der 40.000er Stadt. Sie leiten ein Kindertagesheim und eine Gemeinde. Hauptindustriezweig der Region ist die Blumenzucht Die Heilsarmee in Cayambe steht vor dem Ausbau/Neubau des Kindertagesheims. Eine Hausbäckerei ist ebenfalls geplant. Homepage: www.streetlegal.ch

Datum: 25.04.2002
Autor: Peter Hauri
Quelle: Jesus.ch

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