Die Crux mit dem Kreuz

Kreuz
Kreuz

Der Theologe Martin Forster zeichnet die wichtigsten Fragen nach, die den Verlauf der Kirchengeschichte mitprägten und bis heute im Gespräch sind. Das Kreuz gehört zu den ältesten und bedeutendsten christlichen Symbolen.

Die Deutung des Kreuzes im Neuen Testament

Die nackten Tatsachen gibt es in der Geschichtswissenschaft nicht. Die Ereignisse werden immer gedeutet. So ist es auch beim Tod Jesu. In der Art, wie Jesus in seinem jüdischen Umfeld aufgetreten war, musste Jesus mit einem gewaltsamen Tod rechnen. Hatte er sich aber auch überlegt, was der Sinn seines Todes sei?

Verschiedene Worte und Handlungen sind in den Evangelien überliefert, die hier eine Antwort geben1. Darin ist der Sinn des Todes Jesu die Stellvertretung für die vielen. Jesaja 53 und der ganze Zusammenhang von Jesaja 40-55 bilden den alttestamentlichen Hintergrund für dieses Verständnis des Todes Jesu. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern bringt die Deutung auf den Punkt: In seinem Tod bietet Jesus Befreiung und Vergebung der Sünden an.

Die neutestamentlichen Schriftsteller haben weitere Vorstellungen entwickelt, um den schmachvollen Tod Jesu am Kreuz zu deuten. In der Antike bedurfte der Kreuzestod eines religiösen Führers unbedingt einer Erklärung. Ein hingerichteter Terrorist konnte nicht ohne weiteres als Herr und Gott verkündigt werden. Um diesen Tod zu deuten, wurden verschiedene Bilder verwendet.

Der Tempel

An verschiedenen Stellen wird die Opferterminologie aufgenommen. In Römer 3,25 ist mit dem umstrittenen "Sühnopfer" sicher an den Tempel erinnert. Auch die "Blut-Terminologie" gehört hierher. In Epheser 5,2 wird Christus ausdrücklich als Opfer bezeichnet. Der Hebräerbrief ist voll von Anspielungen an den Tempel und sein Opferwesen. Jesus steht mit seinem Tod an der Stelle des Tempelopfers. Er bewirkt die Vergebung der Sünden. Hartmut Gese hat versucht zu zeigen, dass die Sühnevorstellung im Alten Testament nicht die Übertragung einer Sache - der Sünde - auf den Sündenbock meint, sondern die existenzielle Stellvertretung.
Auf Jesus bezogen heisst das: Der Mensch hat sein Leben verwirkt; Jesus steht nun an seiner Stelle und nimmt seinen Tod auf sich. Jesus stirbt nicht nur für unsere Sünden, sondern an unserer Stelle.

Die Wirtschaft

Das Werk Jesu kann als Loskauf dargestellt werden. So wie ein Sklave freigekauft werden kann, werden auch wir durch Christus freigekauft. In Markus 10,45 ist Jesus das Lösegeld. Auch Paulus braucht das Verb "loskaufen" an verschiedenen Orten3.

Die menschlichen Beziehungen in Familie und Politik

Die Bedeutung des Verbs "versöhnen" ist wohl die "Wiederherstellung einer gestörten Beziehung", sei das im öffentlichen oder privaten Leben. Feindschaftliche Beziehungen werden befriedet. Dieses Konzept wendet Paulus auch auf die Beziehung Gott - Mensch an, am prägnantesten tut er dies in 2. Korinther 5,16-21.

Die Justiz

Der Mensch lebt in Feindschaft zu Gott. Durch Jesu Tod sind wir gratis gerecht gemacht worden. Der Zorn Gottes ist an Juden und Griechen deutlich geworden. In Jesus Christus ist die Gerechtigkeit Gottes offensichtlich geworden. Hinter diesen Gedanken des Römerbriefes steht die Vorstellung eines Rechtsverfahrens. Dieses forensische Verständnis des Werkes Jesu hat Paulus im Römer- und im Galaterbrief breit entfaltet.
Für Luther war es die grosse Entdeckung, als er merkte, dass er die Gerechtigkeit Gottes nicht erarbeiten muss, dass sie ihm viel mehr geschenkt wird.

Der Sieg

Im Kolosserbrief wird vom Sieg Jesu gesprochen (Kol 2,15). Jesus hat in einem Machtkampf die Gewalten am Kreuz besiegt. Mit diesen Bildern deutet das Neue Testament den Tod Jesu. Für uns heute ist es hilfreich, wenn wir auf alle Bilder sehen und keines nur für sich allein nehmen.

Die Deutung des Todes Jesu in der Kirchengeschichte

Auch die verschiedenen Deutungen, die in der Kirchengeschichte vom Kreuz gegeben wurden, helfen zu einem besseren Verständnis. Sogar aus Deutungen, die wir theologisch ablehnen, können wir lernen.

Die Alte Kirche

Die Alte Kirche hatte grosse Umwälzungen zu bewältigen. Sie musste ihren Glauben der römisch-griechischen Kultur verständlich machen (Apologeten). Verschiedene Irrlehren machten ihr zu schaffen (Gnosis). Seit dem 4. Jahrhundert gehören auch staatspolitische Themen auf die Traktandenliste der Kirche. In den Denkkategorien der hellenistischen Welt musste der christliche Glaube erklärt und verteidigt werden. Keine leichte Aufgabe! Die Deutung des Todes Jesu war nicht umstritten und stand deshalb zu dieser Zeit nicht im Zentrum der Diskussionen.
Die frühe östliche Kirche hat den Tod Jesu als Beseitigung des Bösen und Wiederherstellung der Menschheit interpretiert, nicht als Sühne für die Schuld: der Mensch wird von Teufel und Tod freigekauft.

Irenäus (gestorben um 200) stellt erstmals die Frage, warum der Logos Mensch geworden sei und gelitten habe. Seine Antwort aufgrund von Römer 5,18f ist: Im ersten Adam haben wir Gott beleidigt und sind wir Gottes Schuldner geworden; im zweiten Adam sind wir gehorsam bis zum Tod geworden und dadurch wieder mit Gott versöhnt4.
Gregor von Nyssa (330 - 395) sagt in seinen katechetischen Orationen: "Gott, um sicher zu gehen, dass das Lösegeld für uns vom Teufel, der es verlangte, problemlos akzeptiert würde, verbarg sich unter dem Schleier unserer Natur, damit, wie bei einem Raubfisch, der Angelhaken der Gottheit zusammen mit dem Köder des Fleisches heruntergeschluckt werde und so das Leben in das Haus des Todes kommt5."

Die frühe westliche Kirche sieht seit Justin (gestorben 165) im Tod Jesu die Straftilgung. Durch Jesu Tod ist dem Gesetz Genüge getan worden. Sie hält aber auch am Sühnecharakter des Opferblutes Christi fest. Die ersten Bausteine für die spätere Satisfaktionslehre werden hier bereit gelegt. Allerdings wird Gott gegenüber durch die Busse Genugtuung geleistet. Auch der Loskauf von Tod und Teufel spielen im Westen eine Rolle.
Nach Augustin (354 - 430) bedeutet die Stillung des Zornes Gottes keinen Gesinnungswechsel Gottes. Gott liebt uns als seine Geschöpfe von jeher. Er versöhnt sich mit uns und lässt uns aus Christi unschuldigem Strafleiden Erlass von Sündenschuld und Strafe zufliessen. Durch Christi Strafleiden verliert der Teufel sein Recht an uns. Augustin hält die Menschwerdung und den Tod Christi nicht für absolut notwendig. Gott hätte die Versöhnung auch anders, aber nicht passender, schaffen können.

Das Mittelalter

Anselm von Canterbury (1033 - 1109) gehört heute zu den "Buhmännern" der Kirchengeschichte. Sein Gottesbeweis sei überholt und seine Satisfaktionslehre zeige Gott als einen sadistischen Tyrannen. So das Vorurteil! Trotz aller Unkenrufe halte ich es doch für wichtig und hilfreich, die Gedanken von Anselm zu kennen. Die Satisfaktionslehre ist eine der folgenreichsten theologischen Lehren in der Geschichte der Kirche.

Warum wurde Gott Mensch? Anselm stellt sich diese Frage, um dadurch das Wunder der Erlösung zu erklären. Er will den ungläubigen Menschen mit seinem Dialog den Glauben nicht beweisen, er will viel mehr den Gläubigen die Vernünftigkeit des Glaubens zeigen. Anselm versteht sich als Schrifttheologe. Was er sagt, soll von der Schrift her überprüfbar sein. Mit seiner Abhandlung will Anselm die Lehre widerlegen, dass dem Teufel ein Lösegeld bezahlt werden müsse.

Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Als solches ist er dazu geschaffen, durch die Beziehung zu Gott selig zu werden. Er schuldet seinem Schöpfer Gehorsam und Ehrerbietung. Dieses Verhältnis zwischen Gott und Mensch gehört zur schönen Ordnung des Kosmos. Gott hat einen Anspruch auf Gehorsam und Verehrung. Wenn der Mensch Gott nun diesen Gehorsam nicht leistet und ihm die Ehre nicht gibt, dann sündigt er. Die Beziehung zwischen ihm und Gott ist gestört. Die Sünde wiegt so schwer, weil er das, was er macht, gegen den Willen Gottes tut. Der Mensch ist auch nicht entschuldbar, weil er freiwillig handelt. Mit dieser Schuldenlast kann der Mensch nicht zur Seligkeit gelangen. Er muss Gott gegenüber Genugtuung leis-ten.

Anselm benutzt das Bild von der Perle, um diesen Sachverhalt zu illustrieren. Ein Reicher hat eine wunderschöne Perle, die er in seiner Schatztruhe bei seinen anderen Kostbarkeiten aufbewahrt. Wenn der Reiche es nun zulässt, dass ein Neider diese Perle in den Kot werfen kann, dann wird der Reiche seine Perle zuerst reinigen, bevor er sie wieder in die Schatztruhe zurücklegt. Die Genugtuung besteht nach Anselm in der Reinigung der Perle. Diese Genugtuung, die mehr ist als der ohnehin geschuldete Gehorsam, kann nur Gott selbst leisten. Aber nur der Mensch, der schuldig wurde, darf sie leisten. So kann nur der "Gott-Mensch" wirklich die geforderte Genugtuung leisten. Der Mensch kann Gott nichts Grösseres geben, als sein Leben freiwillig für Gott dahinzugeben. Das liebenswerte und unschuldige Leben Jesu ist unvergleichlich viel mehr wert als die hassenswerten Sünden.

Anselm illustriert auch diesen Aspekt seiner Satisfaktionslehre mit einem Bild. Die gesamte Bewohnerschaft einer Stadt, ausser einem Mann, hat sich gegen den König aufgelehnt. Die Todesstrafe ist über alle Bewohner verhängt worden. Niemand kann etwas tun, um dem drohenden Untergang zu entgehen, ausser dem Einen. Dieser Eine ist unschuldig und steht beim König in Gnade, so dass er die Menschen dieser Stadt aus der auswegslosen Situation befreien könnte. Zusätzlich hat er eine solche Liebe zu seinen Mitbewohnern, dass er sie auch erretten will. Aufgrund des Dienstes, den dieser Eine zugunsten des Königs vollbringt, lässt der Herrscher sich versöhnen.

Im Traktat von Anselm werden die Gerechtigkeit Gottes und die Sünde des Menschen deutlich, wie aber steht es mit der Liebe Gottes? Die ganze Satisfaktionslehre zeigt nach Anselm die grosse Barmherzigkeit Gottes: "Denn was könnte barmherziger gedacht werden, als wenn Gott Vater zu dem Sünder, der zu ewiger Pein verurteilt ist und nicht hat, wodurch er sich daraus befreien könnte, spricht: nimm meinen Eingeborenen und gib ihn für dich; und der Sohn: nimm mich und erlöse dich?"
Neben den wertvollen Gedanken von Anselm gibt es aus heutiger Sicht auch einige Kritikpunkte. Für Anselm ist der "Mehrwert" der Genugtuung sehr wichtig. Hier ist zu fragen, ob das "Mehr" von Gott wirklich gefordert wird. Ist Anselm nicht zu stark Sklave seines Sys-tems? Die Christologie Anselms, wie sie sich in "Cur Deus Homo" äussert, blendet die Menschwerdung Jesu fast vollständig aus.

Peter Abaelard (1079 - 1142) stimmt mit Anselm darin überein, dass dem Teufel kein Lösegeld bezahlt werden muss. Er widerspricht ihm aber darin, dass Gott das blutige Opfer seines Sohnes als Genugtuung gefordert haben sollte. Jesus Christus ist kein stellvertretendes Opfer für uns, er ist unser Lehrer und Vorbild. Das freiwillige Selbstopfer des Sohnes Gottes bewegt uns zu einer Antwort der Liebe: "Erlösung ist diese grösste Liebe, die durch Christi Leiden in uns angefacht wurde, eine Liebe, die uns nicht nur von den Banden der Sünde befreit, sondern für uns auch die wirkliche Freiheit von Kindern erwirbt, wo Liebe statt Angst das dominierende Gefühl wird."

Abaelard reduziert die Erlösung auf ein einziges Prinzip, nämlich die Manifestation der Liebe Gottes in Jesus Christus. Sie erweckt in uns eine antwortende Liebe. Dieses Verständnis des Kreuzes wird "subjektive Soteriologie" genannt, weil hier keine "Transaktion" zwischen Gott und den Menschen stattfindet. Die Liebe Gottes soll die Liebe des Menschen entfachen.
Diese beiden Versöhnungsvorstellungen von Anselm und Abaelard blieben bis in die Gegenwart grundlegend. Die einen betonen die objektive Linie von Anselm, die anderen die subjektive von Abaelard, wobei heute die Sicht von Abaelard im Vordergrund steht.

Die Reformation

Die Reformatoren schlossen sich mehr oder weniger der Satisfaktionslehre Anselms an, aber eigentlich stand diese Frage für sie gar nicht im Vordergrund. Die reformatorische Frage von Luther lautete: "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" Mit Rekurs auf die Schrift lautete die Antwort: "Nicht aus Werken, sondern aus Gnaden!" Die Schlagworte der Reformation "sola scriptura, sola fide, sola gratia" unterstreichen ihr Anliegen.

Im zweiten Artikel der "Schmalkaldischen Artikel" (1537) kommt Martin Luther (1483 - 1546) auf die Erlösung zu sprechen. Er sagt dort: "Jesus Christus, unser Gott und Herr, ist um unserer Sünde willen gestorben und um unserer Gerechtigkeit willen auferstanden. Er ist allein das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, und Gott hat unser aller Sünde auf ihn gelegt." Und etwas weiter: "Von diesem Artikel kann man in nichts abgehen oder nachgeben, mag Himmel und Erde oder was sonst nicht bestehen wird, einfallen7." Luther wendet sich mit diesem Artikel gegen die Lehre der damaligen katholischen Kirche: Nicht aus Werken wird der Mensch gerecht, sondern aus Glauben.

Johannes Calvin (1509 - 1564) deutete das Werk Christi mit der Lehre von den drei Ämtern. Christus ist Prophet, König und Priester8. Als Prophet ist Jesus der vollkommene Lehrer, der uns vom Vater erzählt. Jesus ist Herr und König der Kirche. In Zeiten der Not darf sie wissen, dass Jesus für sie sorgen wird, und das gilt auch für jeden einzelnen Christen. Jesus hat uns mit Gott versöhnt und bittet für uns bei Gott. Das ist sein priesterliches Amt. Calvin weitet damit das Werk Christi über die blosse Satisfaktion hinaus, aber auch er steht auf dem Boden von Anselms Statisfaktionslehre.

Die Aufklärung

Immanuel Kant (1724 - 1804) hat mit seinen erkenntnistheoretischen Schriften die traditionelle Metaphysik im deutschsprachigen Europa stark ins Wanken gebracht. Kant hat sich aber nicht nur zu philosophischen Fragen geäussert, sondern auch zu theologischen. In seinem Büchlein "Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft" (1794) zieht Kant aus seiner Kritik auch die Konsequenzen für die Religion. Was kann das jetzt noch heis- sen: Jesus Christus starb für unsere Sünden? Der Menschensohn ist die Personifizierung der Menschheit in ihrer ganzen moralischen Vollkommenheit. Dieses Ideal moralischer Vollkommenheit ist Mensch geworden. Der Mensch in seiner physischen Existenz ist vor einem moralischen Gerichtshof schuldig. Als geistiges Wesen (Ding an sich) hat er das Ideal der moralischen Vollkom- menheit in sich aufgenommen. Nun kann er hoffen, freigesprochen zu werden. Der Mensch in seiner geistigen Existenz ist also der Stellvertreter des physischen Menschen9. Kant hat ein rein moralisches (Miss-)Verständnis der Religion.

Die Liberale Theologie

Die liberale Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts lehnt die Satisfaktionslehre ab, weil sie dem modernen Denken nicht mehr entspricht. Friedrich Schleiermacher (1768 - 1834), einer der bedeutendsten Philosophen und Theologen des 19. Jahrhunderts, gehört in diese Linie. Er vertritt eine Theologie des Bewusstseins. Glaube ist das "Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit". In diesem Gefühl der Einheit mit dem Transsubjektiven wird der Mensch frei und sich selbst. Erlösung heisst nach ihm, dass der Mensch in die Kräftigkeit des Gottesbewusstseins Jesu aufgenommen wird. Die Gläubigen wissen um die Sünde, aber in der Lebensgemeinschaft mit Christus erleben sie diese nicht mehr als Übel. Die Versöhnung ist das daraus resultierende selige Gefühl der inneren Geborgenheit. Das Kreuz Christi diente dazu, das Gottesbewusstsein Jesu zu prüfen.

Auch Albrecht Ritschl (1822 - 1889) gehört in die Linie von Schleiermacher. Das Leben und Sterben Jesu ist die Manifestation der vorbehaltlosen Liebe Gottes. In Gott kann kein Zorn gefunden werden, nur grenzenlose Vergebungsbereitschaft. Der Mensch stellt sich als Folge der Sünde einen zornigen Gott vor. Er lebt deshalb in glaubenslosem Misstrauen gegen Gott. Dieses Misstrauen ist Sünde. Der Mensch muss mit Gott versöhnt werden nicht umgekehrt, das heisst, er muss aus seinem Misstrauen befreit werden.

Die Neuzeit

Karl Barth (1886 - 1968) hat im umfangreichen Teil IV seiner Kirchlichen Dogmatik die Versöhnungslehre ent- wickelt. Barth denkt als reformierter Theologe vom Bund her: Gott hat einen Bund mit den Menschen geschlossen. Der Mensch ist aus diesem Bund ausgetreten. In dieser ausweglosen Situation wird Gott selbst aktiv. Er tritt in Jesus Christus in die Geschichte ein, und an ihm ist nun theologische Erkenntnis möglich. In der Versöhnungslehre entwickelt Barth deshalb die Lehre von der Person und vom Werk Jesu.

Die Versöhnung denkt Barth personal und nicht von einem Rechtsprinzip her. Gott vollstreckt am Kreuz das Gericht über die Sünde, er ist dabei nicht der Empfänger einer Leistung, die seinen Zorn besänftigt. In der Person Jesu nimmt Gott das Gericht selbst auf sich. Gott wählt für den Menschen die Befreiung und für sich die Verwerfung. Dieser Akt der Versöhnung bedeutet die Erfüllung des Bundes. Die Versöhnung, die am Kreuz geschehen ist, gilt universal. Barth legt grossen Wert auf die Objektivität des Geschehens. Die Aneignung im Glauben ist demgegenüber sekundär. Hier stellt sich natürlich die Frage nach der Reichweite des Versöhnungsgeschehens.

Jürgen Moltmann hat 1972 mit seinem Buch "Der gekreuzigte Gott" grosses Aufsehen in der theologischen Welt erregt. Er rief die Theologie leidenschaftlich auf, das Kreuz ganz neu ins Zentrum ihrer Arbeit zu stellen. Wie Barth betonte er, dass Gott am Kreuz gestorben ist. Ja, noch mehr: am Kreuz Jesu ist Gott selbst in den Tod des Menschen eingetreten. In der Person des Gekreuzigten nimmt er die Gottverlassenheit dieses Todes auf sich, um so bei den elenden, leidenden und sterbenden Menschen in ihrer Gottverlassenheit zu sein. Wenn Gott in dem Gekreuzigten von Gott verlassen wird, dann haben wir ein Problem vor uns. Dieses Paradox ist nur denkbar, wenn wir trinitarisch denken. Am Kreuz erleidet der Sohn die Vaterlosigkeit und der Vater die Sohnlosigkeit. Nicht nur der Sohn, sondern auch der Vater leidet am Kreuz. Gott musste sein eigenes Herz zerreissen, um sich der Gottverlassenheit der Menschen annehmen zu können.

Dorothee Sölle hat in ihrem feministisch-befreiungstheologischen Denken ein eigenes Verständnis des Kreuzes gewonnen. Stellvertretung heisst, das Jesus an die Stelle des metaphysischen, leidensunfähigen Gottes getreten ist. In Jesus ist Gott neu definiert worden als Kraft der Hingabe. Jesus ist auch an unsere Stelle getreten, aber nicht, um uns von der Hingabe zu befreien, sondern um die Stelle für uns freizuhalten, an die wir uns stellen können. Das Kreuz ist kein Symbol, sondern ein realpolitisches Folterinstrument in der Hand der Mächtigen. Jesus hat sich auf die Seite der Armen und Unterdrückten gestellt. Die Passion ist keine Episode aus der Vergangenheit, sie ist gegenwärtig im Leiden unter Ausbeutung, Hunger, Militärherrschaft und Terror. "Das Kreuz umarmen" heisst heute, in den Widerstand hineinzuwachsen. Wo Menschen versuchen, eine gerechtere Welt zu schaffen und deswegen leiden, da ist das Kreuz.

Gewisse feministische Theologinnen gehen noch weiter als Dorothee Sölle10. Bei ihnen stellt sich die Frage, ob ein Mann Frauen überhaupt erlösen kann. Sie weigern sich, den Opfertod Jesu am Kreuz als freimachendes Symbol zu sehen. Jesus als prominentester Sündenbock der Menschheit vermittle keine ansteckende Freiheit. Sein Vorbild verlange von den Jüngerinnen einen aufopfernden Lebensstil. Dieser habe sie ihrer Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung beraubt. In der Geschichte der Christenheit seien Minoritäten und Randgruppen immer wieder in die Rolle des Sündenbocks gedrängt worden. Sie hätten sich dann mit dem sich aufopfernden Christus identifizieren müssen.

Hier wird das Kreuz von der negativen Wirkungsgeschichte her interpretiert. Die Wirkungsgeschichte darf herangezogen werden; sie kann wertvolle Hinweise auf Engführungen in der Interpretation des Kreuzes geben. Ob es angesichts der wirtschaftlichen und ökologischen Situation angezeigt ist, den aufopfernden Lebensstil so zu diffamieren, halte ich für fraglich. Wie immer, wenn es in der Froschperspektive gesehen wird, ist auch hier das Evangelium verzerrt dargestellt. Der heilige Gott kommt in dieser Theologie kaum mehr zur Sprache.
Der Reichtum - manchmal auch die Einseitigkeit - der Deutungen des Kreuzes Christi im Neuen Testament und in der Kirchengeschichte soll uns helfen, wenn wir um ein Verständnis des Kreuzes ringen. Es gibt viele Aspekte, durch die das Kreuz in unser Leben hinein sprechen kann. Das Geschehen am Kreuz ist letztlich ein Geheimnis, das sich uns nie ganz erschliesst.

Anmerkungen

1 Die Abendmahlsworte, das Lösegeldwort (Mk 10,45), das Schwertwort (Lk 22,35-38), Eliawort (Mk 9,12f), die "Dahingabeformel" (z.B. Mk 9,31), das Hirtenwort (Mk 14,27), die Fürbitte für die Schuldigen (Lk 22,16.18)

2 H. Gese. "Die Sühne". In: J.C.B. Mohr. "Zur biblischen Theologie." Tübingen: Paul Siebeck , 19893 . S. 85-106

3 1 Kor 6,20;7,23; Gal 3,13;4,5

4 Adv. haer. V. 16,2

5 Gregor von Nyssa. "Katechetische Orationen 22 - 26". J. R. W. Stott. "The Cross of Christ". p. 113

6 P. Abaelard zu Röm 3,19-26 in J.R.W. Stott. "The Cross of Christ". p. 217f

7 M. Luther. "Die Schmalkaldischen Artikel". S. 181

8 J. Calvin. "Institutio". Buch II, Kapitel XV, Abschnitte 1ff

9 I. Kant. "Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft". S. 75f und 94

10 Doris Strahm. "Aufbruch zu neuen Räumen". 1990, S. 71ff. "Feministische Theologie". 1992, S. 51ff

Datum: 24.06.2010
Autor: Martin Forster

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