Röntgenblick auf Religion in der Schweiz – lassen sich die Kirchen alarmieren?

Teenie Praise Night: Die Landeskirchen haben wenig Veranstaltungen, für die Jugendliche sich begeistern.
Mehr Schweizerinnen sehnen sich nach innerem Frieden durch östliche Weisheit und esoterische Lehren.
Der hohe Ausländeranteil in der Schweiz vermehrt die religiöse Vielfalt; die Kirchen sind herausgefordert, dem Christentum neu Profil zu geben.
Die Kirche thront über dem Dorf – das Leben der Menschen bestimmt sie nicht mehr.
Lifestyle-Ideale (mit denen viel Geld verdient werden kann) stehen längst in Konkurrenz mit religiösen und ethischen Werten.
Früher wurden Engel als Boten Gottes verehrt, heute dienen sie der Verkaufsförderung im Weihnachtsschaufenster.
Die Theoretiker der Säkularisierung sind enttäuscht: Im Anfang des 21. Jahrhunderts suchen Menschen (wieder) Halt und Schutz bei überirdischen Mächten.
Christen aus dem Süden wärmen in Europa Herzen: Viel wird davon abhängen, wie sich die Kirchen neuen Formen des Gottesdienstes öffnen.
Roland J. Campiche

„Glauben ist weder eine Sache des Alters noch der Generationen. Die jüngsten Befragten glauben am häufigsten an ein Leben nach dem Tod.“ Diese Sätze stehen in einem Buch, das dem religiösen Wandel in der Schweiz nachspürt. Es führt zur Frage: Was unternehmen die Kirchen, wenn immer mehr Menschen nichtkirchlich-gläubig sind?

Nach einer Umfrage glauben 69 Prozent der unter 35-Jährigen an ein Leben nach dem Tod; bei den über 55-Jährigen sind es bloss 55 Prozent. „Die junge Generation fühlt sich unsterblich und will es sein.“ Dies zeigt: Religiosität ist wieder in. Doch was dies für das Christentum und die Kirchen bedeutet, ist überhaupt nicht klar. Denn die religiöse Landschaft der Schweiz hat sich seit 1960 tiefgreifend verändert.

Der reformierte Lausanner Religionssoziologe Roland J. Campiche ersetzt in seinem 2004 erschienenen Buch „Die zwei Gesichter der Religion“ die gängige Behauptung von der Privatisierung der Religion in der Moderne durch eine neue These von einem Spektrum zwischen zwei Polen: hier kirchlich verwurzelte Religion, dort universale, für verschiedenste Einflüsse offene Religiosität.

Das gelehrte Buch, das Campiche zusammen mit dem katholischen St. Galler Pastoraltheologen Alfred Dubach, Jörg Stolz und Raphaël Brouquet verfasst hat, durchleuchtet auf fast 300 Seiten die Religiosität der Schweizer Bevölkerung, die in den letzten Jahren manchmal plakativ mit „Religion ja – Kirche nein“ umrissen wurde. Der Band folgt auf den Band „Jede(r) ein Sonderfall?“, den Dubach und Campiche 1993 herausgaben.

Religion – keine Randerscheinung geworden

Das Buch sucht eine folgenschwere Verzeichnung zu korrigieren, die der Begriff ‚Sonderfall’ unabsichtlich noch aufgemöbelt haben dürfte: die Gleichung ‚Religion = Privatsache’. Mit dieser Formel, so Campiche, wurde Religion nicht nur in die „geschützte Sphäre des Individuums“ verwiesen, sondern auch zur „Randerscheinung aus der Sicht der Gesellschaft“ herabgestuft.

Der gewiefte Analytiker der Spätmoderne findet, die Gleichung erweise sich „trotz ihres Erfolgs in breiten Kreisen als unangemessen“. Auch wenn die Kirchen ihre Macht weitgehend eingebüsst haben, bastelt das Individuum seine Religion nicht allein zusammen, sondern „baut seine religiöse Identität in ständiger Interaktion mit der Gesellschaft auf.“

Alfred Dubach führt „kollektive Handlungsmuster“ und „kulturelle Selbstverständlichkeiten“ als Schranken für die Freiheit des Individuums ins Feld. Er argumentiert, im ersten Buch 1993 sei nicht die Rede davon gewesen, „dass fortan jeder Mensch nach seinem Gusto seine Religiosität entwirft“. Positiv formuliert Dubach, dass Einzelne „durch Distanz zur Institution Kirche grössere Spielräume für Eigeninterpretationen des Lebens“ erhalten.

Umfragen zeigen Wandel in den Neunzigerjahren

Das Buch profitiert davon, dass zwei fast identische Umfragen verglichen werden konnten: Die erste erfolgte im Epochenjahr 1989 in Form von 1315 persönlichen Gesprächen; die zweite zehn Jahre später, am Vorabend des Millenniums, in 1562 Telefoninterviews mit denselben Fragen. Die Befragten füllten danach einen international vergleichbaren Fragebogen über „Religion und soziale Bindung“ aus.

Weiter nutzen die Autoren eine im selben Jahr im In- und Ausland gemachte Umfrage zu „Sozialen Bindungen und Weltanschauungen“. So können sie die Verschiebungen in den Neunzigerjahren analysieren. Sie fallen dramatisch aus: „Während sich 1989 noch 53,7 Prozent der Befragten als Mitglieder einer religiösen Gruppe fühlten, sind es 1999 nur noch 41,5 Prozent.“

Sowohl die reformierten Protestanten wie die römischen Katholiken sind in der Auswahl von 1999 übervertreten (6 bzw. 5 Prozent mehr als ihr Bevölkerungsanteil nach Volkszählung 2000); die Freikirchler machen gerade ein Prozent der Befragten aus. Die Untersuchung fokussiert auf die Mitte, nicht auf die Ränder des religiösen Teppichs. Die über 300'000 Muslime, deren Religion nach traditionellem Verständnis Vorgaben für alle Lebensbereiche macht, kommen nicht in den Blick; die Befragung fand in den drei Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch statt.

„Glauben ohne Beteiligung“ – anderseits wird von Gemeinschaft geträumt

Ausgangspunkt für die Analyse ist die Beobachtung, dass gemäss Volkszählung 2000 noch 84 Prozent der Schweizer Bevölkerung einer der beiden grossen Kirchen angehörten. Die Soziologen weisen nach, dass sich die Bindung an die Kirche und das Engagement in ihr weiter zurückgebildet haben. Den Gottesdienst besucht noch ein Viertel der Befragten regelmässig, die Hälfte nie. Die Formel der Soziologin Grace Davie, die 1994 im Blick auf die Kirchenaustritte in Grossbritannien von „believing without belonging“ gesprochen hatte, wandelt Campiche ab zu „Glauben ohne Beteiligung“.

Die statistischen Möglichkeiten der Religionssoziologie ausreizend, spüren die Autoren den widersprüchlichen Aspekten zeitgenössischer Religiosität nach. Von hochgestochenen Passagen braucht sich der Leser nicht abschrecken zu lassen; eine Fülle von Beobachtungen und Vermutungen im tabellenreichen Werk lohnt die Lektüre.

Dabei finden sich überraschende Sätze wie dieser: „Auf der einen Seite gilt die Kirche als Institution für die Bewahrung der gesellschaftlichen Werte als unerlässlich, auf der anderen Seite erweist sich die kleine Gemeinschaft als verführerisch, befriedigt sie doch das starke Streben nach Authentizität, Gemeinschaft und Beziehung selbst dann, wenn man ihr nicht beitritt.“

Am wichtigsten: das Vorbild der Mutter und die Jugendgruppe

Jörg Stolz, als Nachfolger von Campiche an der Universität Lausanne ein Vertreter der jüngeren Generation der Religionssoziologen, prüft mit den Daten den Erkenntniswert herkömmlicher Säkularisierungstheorien. Ergebnis: Die einen erhellen nichts, andere zeigen Bekanntes. (Stolz spricht von einer „generellen Abnahme der sozialstrukturellen Erklärungsmöglichkeiten im Verlauf der letzten Jahrzehnte“.) Ein urbanes Umfeld bewirkt bei Männern viel eher Distanz zur Kirche als bei Frauen – „als interessierten sich Männer tendenziell für Religion nur im Rahmen einer ehelichen Partnerschaft oder Familie“.

Anderseits unterstreichen die Antworten von Frauen und Männern, wie wichtig das Vorbild der Mutter (gefragt wurde nach dem Kirchgang) sowie der Besuch einer Jugendgruppe fürs Hineinwachsen in den Glauben sind. Für die Erklärung der Religiositätsunterschiede zwischen den Kantonen genügt laut Stolz die traditionelle konfessionelle Prägung: Katholizismus verbindet sich „mit stärker Ländlichkeit, geringerer Modernität, geringerer religiöser Pluralität und höherer Religiosität“.

Die Bedeutung der Kirchen für die Öffentlichkeit

Die Schweizerinnen und Schweizer sehen die Bedeutung der Kirchen für die Öffentlichkeit sehr unterschiedlich. Die Meinung, sie seien überflüssig, hat in den 90-er Jahren nicht zugenommen. Die Hälfte (bloss) findet, „die protestantische und die katholische Kirche würden den Fortbestand des Christentums in der Schweiz sichern“. Deutlich wuchs indes die Erwartung von sozialen und kulturellen Dienstleistungen (Landeskirchen, allen voran die Zürcher, haben sich auch bewusst so profiliert).

Campiche vermutet, „dass ein Viertel der Bevölkerung sich nur schwer eine eindeutige Meinung über die Funktionen der Kirchen in der Gesellschaft zu bilden vermag“. Darin dürfte sich vor allem (aber nicht nur) die Stimmung unter Katholiken spiegeln: Viele scheinen hin- und hergerissen zwischen der Wertschätzung der Kirche als bewahrender Institution und der Empfindung, sie stehe dem Fortschritt hemmend im Weg.

Unterschiedliche Austrittsneigungen

Zur Austrittsneigung ist zu lesen, dass Katholiken sich den Schritt eher überlegen, wenn sie in ihrer Wohngemeinde in der Minderheit sind (im Mittelland), Protestanten dagegen, wenn sie die grosse Mehrheit stellen. „Fördert bei den Protestanten der Minoritätenstatus den Zusammenhalt, nährt er bei den Katholiken die Bedenken, weiterhin der Kirche anzugehören.“ Die Austrittsneigung nahm in den Neunzigerjahren deutlich zu, vor allem in grossen Dörfern und Kleinstädten und bei hochqualifizierten Fachkräften und Fachhochschulabsolventen, weniger bei Uni-Abgängern. „Es sind vor allem die 16- bis 35-Jährigen, die den Kirchen den Rücken kehren.“

Ein beträchtliches Problem haben die Landeskirchen jedoch auch mit der (steuerkräftigen) Generation, die im Jahrzehnt nach dem Krieg geboren wurde und in den Emanzipationsstrudel der Sechzigerjahre geriet. In dieser Altersgruppe stieg die Austrittsneigung in den Neunzigerjahren von 18 auf 28 Prozent; bei bei den 1964-73 Geborenen verharrte sie auf hohen 32 Prozent. Dubach gibt sich keinen Illusionen hin: „Mehr als sieben von zehn der unter 30-Jährigen gehen davon aus, dass im Rahmen der Kirchen für sie eigentlich kein Platz vorhanden ist.“

Die Zahl der Konfessionslosen, die 1960 noch unter 30'000 lag, dürfte sich der bald Millionengrenze nähern. Noch geben vier Fünftel von ihnen an, sie seien getauft worden. „Die steigende Zahl der Konfessionslosen löst unter den Protestanten gleichzeitig grössere Nähe und Distanz zur Kirche aus, während die Katholiken sich zusehends den normativen Vorgaben ihrer Kirche entziehen.“

Was wurde aus den bekennenden Christen?

Eines der schlagendsten Ergebnisse der Erhebung von 1999: In der Bevölkerung scheint sich die Zahl der so genannten „exklusiven Christen“, die an Jesus Christus als Gottes Sohn glauben und die Bibel als Wort Gottes annehmen, innert zehn Jahren fast halbiert zu haben, auf 7,5 Prozent! An Zahl stark zugenommen (von 8 auf 14 Prozent) haben hingegen jene, die sich am Heute orientieren. Sie mögen sich nicht mit dem Leben nach dem Tod beschäftigen, gehören zu den Optimisten, wollen aus dem Leben das Beste machen – und dazu darf die Kirche (zwischendurch) beitragen.

Viele Schweizerinnen und Schweizer, die ursprünglich in traditionellen Bahnen glaubten, haben in den Neunzigerjahren fremde Elemente übernommen (Esoterik, Yoga). Auf die Frage, welcher Religion sie sich nahe fühlten, nannten 85 Prozent das Christentum, 26 Prozent den Buddhismus, 14 Prozent das Judentum und 12 Prozent den Hinduismus. „Nichtchristliche religiöse Orientierungen ersetzen tendenziell die christliche Weltanschauung.“

„Nichtchristlich Glaubende“

Und dies geschieht nicht nur in den Städten, sondern auch im ländlichen Milieu. Mehr und mehr Menschen (Jüngere, Konfessionslose, Frauen) ziehen aus dem Christentum aus und lehnen seine Lehre ab, verstehen sich aber weiterhin als gläubig und „beten“ auch.

Campiche zählt zu dieser Gruppe der „nichtchristlichen Glaubenden“ einerseits die „Künder des Jenseits“, welche unter Gott explizit nicht den Vater von Jesus Christus, sondern eine höhere Macht oder übersinnliche Kräfte verstehen und an die Reinkarnation glauben. Anderseits nennt er die Wissenschaftsgläubigen, die von Seelenwanderung nichts wissen wollen, aber davon ausgehen, dass über dem Menschen eine höhere Macht steht.

Statt Nichtglauben tastende Offenheit

Zu Recht spricht Campiche von einer „höchst kontrastreichen schweizerischen Religionslandschaft“. Er sieht Glauben und Unglauben nicht als entgegengesetzte Pole eines Spektrums; vielmehr „spielen Zweifel und Nichtglauben beim Aufbau der religiösen Einstellungen eine ebenso bedeutende Rolle wie die positive Bekräftigung einer Glaubensposition“. Die Schweiz unterscheidet sich hier „von den übrigen europäischen Ländern insofern, als Personen ohne Religionszugehörigkeit sich als relativ gläubig herausstellen“.

Der Inhalt religiöser Orientierungen ist heute offensichtlich „ungefestigt und für kulturellen Wandel und Modeeffekte anfällig“. Das Bild ist so komplex, dass der erfahrene Beobachter seinen Instrumenten nicht mehr zu trauen scheint: Auf die institutionelle Religion, die sich mit herkömmlichen soziologischen Kriterien wie Stadt-Land, Alter und Geschlecht erforschen lässt, „antwortet eine universale Religiosität, welche komplexeren und mithin weniger fassbaren Regeln gehorcht“.

Wünsche an die Kirchen

Gegen Ende des Buchs klopft Campiche das Datenmaterial auf das gesellschaftliche Gewicht der Religion hin ab. Zwar wollen die meisten Befragten nicht auf Religion als „Ressource für schwierige Zeiten“ verzichten; völlig gottlos bzw. ohne Bezug zu einer höheren, schützenden Macht zu leben, ist nicht erstrebenswert. Zudem wird von Kirchen erwartet, dass sie einem überbordenden Liberalismus wehren.

Trotzdem misstrauen die Befragten religiösen Institutionen, die sich ins öffentliche Leben einmischen und mit staatlicher Unterstützung agieren. „Von den Kirchen fürchtet man die Kontrolle und die Neigung, einen ‚vorgefertigten’ Glauben aufzwingen zu wollen.“ Meint Campiche mit diesem Satz auch, dass das negative Bild, welches die römisch beherrschte katholische Kirche bietet, auf die Reformierten abfärbt?

„Im Namen Gottes…“

Zur Anrufung Gottes des Allmächtigen in der Bundesverfassung, vor 1999 kontrovers diskutiert, ergeben sich gleich grosse Lager: Je zwei Fünftel der Befragten sind dafür und dagegen. Wie zehn Jahre zuvor stimmt die Hälfte der Aussage zu, das Christentum sei die Grundlage der schweizerischen Gesellschaft – die Jüngsten sogar häufiger.

Trotzdem weisen die Zahlen eine „beschleunigte Distanznahme der jungen Generation vom Christentum“ aus. Die Auswertung der Daten ergibt insgesamt „ein Bild der Religion und ihrer Organisationen, das einer Utopie gleichkommt“: Man wünscht von den Kirchen durchaus den Einsatz für eine menschlichere Gesellschaft à la Mutter Teresa, doch ohne institutionelle (Macht-)Strukturen.

Wer will Religion aufs Private beschränken?

Der Soziologe fragt, wer Interesse an der Privatisierung von Religion haben kann. „Die Religion – selbst mit allen Ehren – der Seite des Privaten zuzuordnen bedeutet den Versuch, sie ihrer potenziellen Einflussnahme auf das gesellschaftliche Leben zu berauben.“ Campiche weist auf einen Machtkonflikt hin, in dem weitere Akteure, nicht nur der Staat, den Kirchen gegenüberstehen. Zu denken ist hier an die Medien, die Werbung, die Wirtschaft, die naturwissenschaftliche Elite (Forschung am Menschen!).

Campiche verweist darauf, dass die Generation der heutigen Meinungsmacher Religion als Privatsache sieht, weil sie von der „religiösen Revolution in der Mitte der Sechzigerjahre“ geprägt wurde. Wer Religion als privat abqualifiziert, mag vom Interesse geleitet sein, in der Gesellschaft die Wertediskussion zu manipulieren und ethische Grenzen zu verschieben.

Hält die Kirche den Himmel für alle Menschen offen…

Was für Folgerungen haben die beiden (trotz allen ökumenischen Bemühungen um ein gemeinsames Image sehr unterschiedlichen) Landeskirchen aus den Befunden zu ziehen? Der Katholik Alfred Dubach sagt es unumwunden, dass sich „langfristig die Grundsatzentscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Sozialformen aufdrängt“: entweder religiöse Bewegung oder Volkskirche mit unterschiedlichen Mitgliedschaftstypen.

Dubach unterscheidet vier Mitgliedschaftstypen: Der „institutionelle“ Typ (23 Prozent aller Mitglieder) identifiziert sich mit der Kirche und ihren Werten, lebt in ihr und engagiert sich. 54 Prozent gehören zwei „rituellen“ Mitgliedschaftstypen an: Sie sind dabei wegen der Kasualien, die die Kirche an Lebenswenden anbietet – man weiss nicht, „ob man die Kirche nicht einmal nötig haben wird“.

In dieser Gruppe sind die Menschen mit hoher Kirchlichkeit, die traditionell an die Institution gebunden sind, bereits weniger zahlreich als jene mit loser Kirchlichkeit (22 gegenüber 32 Prozent). Letztere sind nicht beheimatet in einer christlichen Gemeinde – sie gestalten ihre Religiosität eigenständig. 23 Prozent aller Kirchenmitglieder (das sind gegen 1,4 Millionen Schweizerinnen und Schweizer!) werden dem vierten Typ zugerechnet, der der Kirche keine Bedeutung für die persönliche Lebensführung zumisst.

…oder zieht sie sich in ein Reservat zurück?

Am Ende des Kapitels formuliert Dubach, im Herbst pensionierter Direktor des katholischen Pastoralsoziologischen Instituts in St. Gallen, weiterführende Überlegungen. Er plädiert für eine „auf die Menschen hin orientierte Kirche“, die Impulse aus der Umwelt aufnimmt.

Einer Kirche dagegen, „die sich als Gemeinschaft entschiedener Christinnen und Christen versteht und ihre Grenzen nach aussen enger zieht, droht auf lange Sicht der Verlust ihrer Anschlussfähigkeit an die Lebensart der Menschen in der heutigen Gesellschaft. Eine solche Optik würde einen Rückzug der Kirchen in ein schrumpfendes Reservat exklusiver Christlichkeit zur Folge haben. Dies würde den Abschied von der volkskirchlichen Tradition bedeuten, zu der es gehört, das von ihr verkündete Heil für möglichst viele Menschen offen zu halten und sich auf die Ambivalenzen und Zerbrechlichkeiten moderner Freiheitsverwirklichung einzulassen.“

Die Kirche, die auf eindeutige Zugehörigkeit abziele, müsse damit rechnen, dass die lose mit ihr verbundenen Mitglieder sich endgültig abwenden. Damit Landeskirchen Volkskirchen bleiben, müssen sie die Menschen der verschiedenen Mitgliedschaftstypen verbinden. „Ihre Bindungskraft vermögen sie nur zu erhalten, wenn sie von ihrer einseitigen territorialen Organisationsstruktur abrücken und sich der Sozialform eines ‚christlichen Netzwerks’ öffnen.“

Neue Angebote genügen nicht

„Die beiden für die Geschichte der Schweiz prägenden Grosskirchen haben den Marsch in die Unleserlichkeit angetreten.“ Eine erste reformierte Reaktion auf diese alarmierende Bilanz der Autoren gab in der Mitarbeiterzeitschrift der Zürcher Landeskirche ‚notabene’ (1/05) Kirchenratsschreiber Pfr. Alfred Frühauf. Er registriert die grossen Vorbehalte gegenüber den Kirchen und die von Campiche benannte Gefahr, dass sie in die ‚Unleserlichkeit’ und ‚Irrelevanz’ abgleiten, in der Öffentlichkeit gar nicht mehr gehört oder verstanden werden. Die Herausforderung müsse sowohl in den Kirchgemeinden wie in gemeindeübergreifenden und ökumenischen Angeboten aufgenommen werden, schreibt Frühauf.

Doch was er nennt (Bahnhofkirche, regionale Gottesdienste für Jugendliche, Pläne zur Erneuerung des Gottesdienstes, Diakoniekonzept), scheint der Herausforderung, die primär in der diffusen, für alles offenen universalen Religiosität besteht, überhaupt nicht angemessen. Zu formulieren wäre etwa, wie die Kirchenmitglieder durch den Glauben an Jesus Christus gestärkt und so miteinander verbunden werden können, dass die Gemeinschaft Strahlkraft bekommt und auch für junge Menschen und Paare attraktiv wird. Stattdessen erlaubt sich Frühauf, über die Eintrittsneigung unter Nicht-Kirchenmitgliedern zu spekulieren…

Roland J. Campiche: Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung.
Unter Mitarbeit von Raphaël Broquet, Alfred Dubach und Jörg Stolz.
Theologischer Verlag Zürich, 2004. 395 S., Fr. 48.-, € 30.-.
www.tvz-verlag.ch

Kurzgefasste Buchbesprechung:
Immer mehr kirchenlose Religiosität in der Schweiz

Datum: 28.12.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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