„Die Gesellschaft ist christlicher geprägt als sie denkt“

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Wolfgang Huber
Thomas Gottschalk
Margot Kässmann

Auf der einen Seite häufen sich die Kirchenaustritte seit Jahren - auf der anderen ist der Weltjugendtag völlig überlaufen: Das Verhältnis der Menschen zur Religion scheint widersprüchlich. Wohin entwickelt sich die Religion und welchen Einfluss haben die Massenmedien auf diesen Prozess?

Auf der einen Seite häufen sich die Kirchenaustritte seit Jahren – auf der anderen ist der Weltjugendtag völlig überlaufen: Das Verhältnis der Menschen zur Religion scheint widersprüchlich. "Zeitgenossen, die gern Nietzsches Satz 'Gott ist tot' auf den Lippen führen, vergessen meist, dass dieser Verlust niemanden mehr geschmerzt hat als Nietzsche selber." Das schreibt "Zeit"-Autor Ulrich Greiner in der der Hamburger Wochenzeitung.

Das Sterben von Papst Johannes Paul II., die Wahl Joseph Ratzingers, der Weltjugendtag in Köln oder der Evangelische Kirchentag in Hannover hätten "die besten Sendeplätze und die Titelseiten der Zeitungen" gefüllt. Doch diese "Inszenierung von Religion beweist noch nichts", schreibt Greiner.

Der Glaube ist nicht verschwunden

"Niemand kann wissen, was jeder Einzelne unter den Tausenden von Betern... gedacht, empfunden, geglaubt hat. Sicher ist nur: Es handelte sich um eine sanfte Demonstration. Sie hat gezeigt, dass diese Gesellschaft christlicher ist, als sie von sich denkt. Zwar ist die Lage der Kirchen prekär. ... Aber der Glaube ist nicht verschwunden."

Kritik: Die Kirchen und der Zeitgeist

Dabei sparte der "Zeit"-Autor in seinem Leitartikel jedoch nicht an Kritik. "Dass die Botschaft der Bibel so wenig bekannt ist, liegt nicht allein an der Bildungsferne unseres so genannten Bildungssystems, es liegt auch an den Kirchen. Aus Furcht, den neuesten Trend des Zeitgeistes zu verpassen und die letzten Schäflein zu verlieren, haben sie allzu lange die bekömmlichen Seiten ihrer Botschaft ausgestellt und die schwierigen versteckt. Sie wollten modern sein und waren doch nur opportunistisch", schreibt Greiner.

„Verstärkte Hinwendung zur Religion“

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, sieht ein wachsendes Interesse der Menschen an Kirche und Religion. "Es gibt eine Zuwendung zur Religion", sagte Huber im ZDF-Morgenmagazin. Dies zeigten Grossereignisse wie Kirchentag, Weltjugendtag oder die Einweihung der wiederaufgebauten Dresdner Frauenkirche im Oktober.“ Noch nie hätten so viele Menschen die Einweihung einer Kirche verfolgt oder an dieser teilgenommen. "Diese Ereignisse sind vielleicht ein Hinweis auf etwas Bleibendes über dieses Jahr hinaus", sagte er

Mehr Christliches in den Medien

Nach den Berichten über den Papst und den Weltjugendtag stand am Vortag des Reformationsfestes ein evangelischer Gottesdienst im Mittelpunkt des Medieninteresses: Mit der Einweihung der Dresdner Frauenkirche befassten sich nicht nur zahlreiche Journalisten in Deutschland, sondern auch viele ausländische Medien.

Die Fernsehsender ZDF und MDR übertrugen Einweihung und Festakt live aus der Frauenkirche. Doch schon vorher gab es Beiträge über Menschen, die an dem erfolgreichen Projekt beteiligt waren - und die teilweise die Gelegenheit nutzten, ihren christlichen Glauben vor laufender Kamera zu bekennen.

Am Tag nach der Einweihung titelte die "Bild"-Zeitung: "Nun danket alle Gott!" In dem Artikel hiess es weiter: "Gott ist wieder zu Hause in der Dresdner Frauenkirche!" Das Nachrichtenmagazin "Spiegel", das nicht unbedingt für sein Wohlwollen gegenüber den Christen bekannt ist, schrieb unter der Überschrift "Auferstanden aus Ruinen" über das ungewöhnliche Projekt.

Millionen Zuschauer: "Gottschalks grosser Bibel-Test"

Quotenhoch für Bibelfragen: Mehr als 6 Millionen Menschen haben am Gründonnerstag "Gottschalks grossen Bibel-Test" im ZDF gesehen. In der Show konnten Zuschauer, Studio-Gäste und Prominente wie "Dschungelkönigin" Desirée Nick, Gloria von Thurn und Taxis, die Fernsehmoderatoren Peter Hahne und Markus Lanz sowie Boxer Darius Michalczewski ihre Bibelfestigkeit unter Beweis stellen.

Was selbst Thomas Gottschalk staunen liess: Viele Teilnehmer zeigten erhebliche Bibelkenntnisse. Von den fünf Prominenten bestand RTL-Moderator Markus Lanz den "Bibel-Test" als Sieger. Bei den vier Publikumsgruppen siegten erwartungsgemäss die "Kirchendiener". Gottschalks grosser Bibel-Test" war ein Beispiel für Christliches im Fernsehen – zumindest ein so noch nie da gewesenes.

Kirche kommt zu den Leuten

"Zweifeln und Staunen". Unter diesem Motto überträgt "ProChrist" im kommenden Jahr die Evangelisationsveranstaltungen in etwa 1000 Gemeinden in ganz Europa. Gestaunt haben viele Menschen auch schon in diesem Jahr. Denn anstatt darauf zu hoffen, dass sich kirchenferne Leute irgendwann einmal in eine Kirche "verlaufen", hat sich "ProChrist" selbst auf den Weg zu den Menschen gemacht.

Seit dem 18. Mai touren 70 Smart-Fahrzeuge unter dem Motto "Einsteigen und Ankommen" insgesamt 40 Wochen durch Deutschland und durch die Schweiz. Die "kleinste Kirche der Welt" ist gut ausgestattet: Eine Bibel im Handschuhfach, ein Holzkreuz am Rückspiegel und christliche Musik von einer CD erzeugten einen Hauch von "Kirchen-Feeling".

So werben die Fahrer der kleinen Smart-Wagen nicht nur für "ProChrist", sondern erregen zusätzlich noch grosse Aufmerksamkeit. Passanten können sich dann bei haltenden Smarts ein genaueres Bild der "kleinsten Kirche der Welt" machen. Dabei kommen sie mit dem Piloten ins Gespräch und merken, dass nicht alles rund um "Kirche" rein theoretisch ist. Die Hürde ist gering, um mit Menschen über Glaubensfragen ins Gespräch zu kommen. Bleibt zu hoffen, dass sich das "Ankommen" genauso leicht wie das "Einsteigen" gestaltet.

Angekommen ist die Aktion auch in den Medien. Hunderte Berichte in Zeitungen und Magazinen, Beiträge im Fernsehen und Radio sind bisher über "ProChrist mobil" geschrieben oder gedreht worden.

Christliche Fussballprofis in den Medien

In einem Punkt stellte sich das Jahr 2005 schon als "revolutionär" heraus: Wie selten zuvor berichteten Fussballstars aus aller Welt so offen von ihrem christlichen Glauben. Dass Fussballprofis sich vereinzelt als Christen zu erkennen gaben, ist bekannt. Das lag vor allem an "Torjubel-T-Shirts" mit Aufschriften wie "Jesus liebt dich". Diese wurden Anfang des Jahres wegen ihrer religiösen Botschaft untersagt. Was aber viele christliche Fussballer nicht daran hinderte, öffentlich von ihrem Glauben zu erzählen.

Eine Plattform bot ihnen der Filmemacher David Kadel mit seinem Fim "Fussball-Gott". Acht Profis erzählen darin von ihrem Glauben und ihrer Beziehung zu Jesus Christus. Mit von der Partie sind die brasilianischen Weltklassespieler Lucio und Ze Roberto oder der deutsche Nationalspieler Gerald Asamoah. Für die Werbung der DVD wagte sich der Mainzer Trainer Jürgen Klopp sogar in die Sendung von Stefan Raab - und bekannte sich dort als Christ.

Die brasilianische Nationalmannschaft verblüffte in diesem Jahr ein Weltpublikum, als sie direkt nach ihrem Confed-Cup Sieg ein gemeinsames Gebet im Mittelkreis einer "Bierdusche" vorzog.

In der "Sportbild", einer der grössten Sportzeitschriften Europas, beschrieb der Schalker Marcelo Bordon sein Leben als Christ im Profisport. Fast schon legendär ist sein Saxophon-Auftritt im alt-ehrwürdigen "ZDF-Sportstudio", mit dem er die christliche Band "Allee der Kosmonauten" unterstützte. Zu guter Letzt lud der "Bayerische Rundfunk" die Bayern-Spieler Lucio und Ze Roberto in die Sendung "Blickpunkt Sport" ein, und liess diese von ihrem Glauben erzählen.

Weltjugendtag: "Glaubensparty am Rhein"

Hunderttausende junge Pilger aus aller Welt kamen zum 20. Weltjugendtag nach Köln. Nachdem der Evangelische Kirchentag im Juni eher wenig Beachtung in den Medien fand, berichteten Fernsehen, Zeitungen und Magazine ausführlich über dieses Ereignis. Dabei äusserte sich die Presse überwiegend positiv zum Weltjugendtag. Allerdings las man in den Medien mehr über die "weltgrösste Party in Köln" als über Themen des Glaubens. Besonders die Fröhlichkeit und Gewaltfreiheit, in der das Massentreffen ablief, wurde in den Zeitungen gewürdigt.

Der "Schweizer Tagesanzeiger" zitierte in einem Kommentar der Veranstaltung den Religionssoziologen Gerhard Schulze. Dieser sieht bei derartigen Grossveranstaltungen die Gefahr, dass Glaube zum Massenerlebnis wird, bei dem das religiöse Gemeinschafts-Event im Mittelpunkt stehe und die eigentlichen Inhalte an Bedeutung verlören. Schulze wörtlich: "Der Weltjugendtag ist eine Erlebniswelt neben vielen anderen. Dabei kann man nicht von einer Rechristianisierung der Gesellschaft sprechen." Das sei mehr Wunschdenken als Realtität.

Die evangelische Bischöfin Margot Kässmann sieht hingegen doch eine Comeback der Religion: „Ich denke, es gibt tatsächlich eine Renaissance von Religion. Die oft herablassend daher kommende Rede vom Ende der Religion, die Glauben als muffig und von vorgestern ansah, wird leiser. Ja, manches Mal ist sogar eine leise Neugier zu erkennen, wenn Menschen sich zu ihrem Glauben bekennen. Die Kirchen müssten jetzt darum kämpfen, dass es nicht um diffuse Religiosität, sondern um konkreten Glauben geht.“

Datum: 27.12.2005

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