Hinweis

Der Ausstieg aus einer Sekte

Wer sich – oft nach langjähriger Verstrickung und Abhängigkeit aus einer Organisation mit vereinnahmendem oder gar totalitärem Charakter lösen will, muss manchen Schritt tun und braucht dazu meistens auch äussere Hilfe. Hier einige Hinweise dazu.
Orientierung
Kreuzhand
Aquarium
Eine Gesprächstherapie kann helfen, die Gedanken zu befreien und das Erlebte zu verarbeiten.

Der Ausstieg aus einer sektenähnlichen Gemeinschaft ist oft ein Kraftakt. Er ist mit vielen Emotionen verbunden und erfordert eine Neuorientierung. Bestehende Kontakte werden abgebrochen, neue müssen oft erst wieder aufgebaut werden.

Margaret Thaler Singer, Professorin für Psychiatrie an der University of California in San Francisco, hat sich intensiv mit den Schwierigkeiten von Menschen befasst, die sich von einer sektiererischen Gruppe getrennt haben und sich nun innerlich davon lösen müssen.* Sie hat Diskussionsgruppen mit ehemaligen Aussteigern gebildet und die Resultate ausgewertet. Hier eine Zusammenfassung:

Schwierige Umstellung

Aussteiger berichten, dass sie sechs bis acht Monate Zeit brauchen, um ihr Leben wieder richtig zu ordnen und ihre eigenen Fähigkeiten neu zu entdecken. Sie müssen Abstand zu ihren widersprüchlichen Gefühlen bekommen. Oft stellen sie fest, dass durch den Sektenbeitritt Probleme aufgeschoben worden sind. Jetzt müssen sie neu angepackt werden.

Depressionen

Durch ein 24-Stunden-System von kultischen Ritualen, Arbeit, Gottesdienst und Gemeinschaftsleben bieten sektenähnliche Gemeinschaften ihren Mitgliedern das Gefühl, „sinnvoll“ zu leben. Nach dem Verlassen der Sekte werden die meisten wieder von einem Gefühl absoluter Sinnlosigkeit befallen. Viele haben auch den Eindruck, Jahre ihre Lebens verloren und vieles verpasst zu haben. Sie müssen ihre Unschuld und ihre Selbstachtung zurückgewinnen.

Einsamkeit

Eine Sekte zu verlassen bedeutet auch, viele Freunde, eine Gemeinschaft mit kollektiven Interessen, die Vertrautheit und Intimität gemeinsamen Erlebens hinter sich zu lassen. Es bedeutet auch, sich neue Freunde in einer verständnislosen oder als argwöhnisch wahrgenommenen Weit suchen zu müssen. Frühere sexuelle Probleme wurden unterdrückt, Menschen manchmal auch sexuell missbraucht (bis hin zu sexuellen Orgien). Nun muss der richtige Umgang entwickelt werden. Andere müssen neu lernen, den Tag zu gestalten und zu strukturieren.

Veränderter Bewusstseinszustand

Von dem Zeitpunkt an, zu dem Interessenten ins Domizil der Sekte eingeladen werden – zum „Ashram“, „unserem Landhaus“, der „Familie“, dem „Center“ – ebenso wie nach der Aufnahme, werden sie in einen Zyklus langer, sich wiederholender Vorträge eingespannt. Diese bestehen aus hypnotischen Metaphern und ekstatischen Gedanken, stundenlangem Singen in halbwachem Zustand, die Aufmerksamkeit fesselnden Liedern und Spielen, und nicht zuletzt aus Meditationen. Viele, die das einmal mitgemacht haben, stellen nach dem Verlassen der Sekte fest, dass eine Reihe von Bedingungen – etwa Stress, ein Konflikt, ein depressives Tief, bestimmte bedeutungsvolle Worte oder Ideen – dazu führen können, dass sie in den tranceähnlichen Zustand zurückkehren, der ihnen von den Sektentagen her bekannt ist. Sie haben Angst, dieses Abgleiten nicht mehr unter Kontrolle zu bringen.

Nicht mehr denken können

Die meisten Sektenaussteiger sind weder dumm noch ausgesprochen verwirrt. Trotzdem berichten sie von bestimmten Wahrnehmungsstörungen und Veränderungen des Denkens, die einige Zeit brauchen, um zu verschwinden. Da sie in der Gruppe dazu angehalten wurden, das (kritische) Denken abzuschalten und sich ganz dem Meister zu öffnen, müssen sie das Denken erst wieder zurückgewinnen. Sie wurden aufgefordert: „zweifle nicht, sei nicht negativ“. Viele beginnen mit einfachen Arbeiten, bis ihr Gehirn wieder langsam zu funktionieren beginnt.

Angst vor der Gruppe

Die meisten Sekten setzen alles daran, um zu verhindern, dass ihre Mitglieder aussteigen. Einige, die es geschafft haben, erzählen, wie sie gewarnt worden sind vor der ewigen Verdammnis für sich selbst, ihre Vorfahren und ihre Kinder. Da viele Sektenaussteiger einen Rest an Glauben an die Sekte zurückbehalten, kann dies allein schon eine schreckliche Last sein. Berichten zufolge reichen die Bemühungen, ausgetretene Mitglieder wieder in die Sekte zurückzubringen, von relativ harmlosen Belästigungen bis hin zu Gewalttätigkeiten. Andere machen sich Sorgen darüber, wie sie sich bei nicht zu vermeidenden zufälligen Begegnungen mit ihren alten „Brüdern“ und „Schwestern“ auf der Strasse verhalten sollen. Sie rechnen damit, dass bei ihnen alte Schuldgefühle über das Aussteigen hochkommen und dass die anderen ihr jetziges Leben verdammen werden.

Der Aquarium-Effekt

Ein besonders schwieriges Problem ehemaliger Sektenmitglieder ist die Tatsache, dass Familie und Freunde ständig in Alarmbereitschaft sind. Bei dem kleinsten Hinweis darauf, dass die Schwierigkeiten im täglichen Leben den Betreffenden in die Sekte zurücktreiben könnten. Schon Erscheinungen wie Tagträume, geistige Abwesenheit, ein zeitweise veränderter Bewusstseinszustand und ein Gespräch über die Sektentage mit einer leicht positiven Tendenz kann Alarm in der Familie eines früheren Sektenmitglieds auslösen. Oft merken das die Ex-Mitglieder genau, aber weder die eine noch die andere Seite weiss, wie man darüber offen reden könnte. Angehörige können nicht verstehen, dass das frühere Sektenmitglied auch positive Erfahrungen in der Gruppe machte.

Schuld

Nach unseren Informationen ist die bewusste Täuschung ein bedeutender Bestandteil der Sektenaktivitäten, besonders im Bereich des Sammelns von Beiträgen und des Anwerbens neuer Mitglieder. Die Unehrlichkeit wird offensichtlich dadurch gerechtfertigt, es geschehe alles zum Wohl der Gemeinschaft oder der angeworbenen Personen.

Verworrener Altruismus

Viele dieser jungen Leute wollen nach dem Austritt aus der Gruppe Wege finden, Nächstenliebe zu praktizieren, ohne wieder eine Schachfigur in einer anderen manipulierenden Gruppe zu werden. Einige fürchten, sie seien „groupies“ geworden, die sich wehrlos in eine kontrollierende Organisation verstricken liessen. Und doch haben sie das Bedürfnis, sich zu engagieren, sich gemeinsam mit anderen für ein „gutes“ Ziel einzusetzen.

Verlorenes Elitebewusstsein

„Sie bringen Dich so weit, dass Du glaubst, nur sie allein wissen, wie die Weit zu reiten sei!“, erinnert sich ein Mitglied. „Du glaubst, Du gehörst zur Vorhut der Geschichte ... Du wurdest aus der anonymen Masse auserwählt, dem Messias beizustehen ... als Erwählter stehst Du ausserhalb des Gesetzes ... schliesslich glaubst Du selbst in aller Demut und Ekstase, Du bist für Gott, die Geschichte und die Zukunft wertvoller als andere Menschen.“ Offensichtlich ist eine der bittersten Ernüchterungen beim Austritt aus der Sekte, dass auch das Gefühl auserwählt zu sein, Mitglied einer Elite zu sein, aufhört.

Voraussetzungen für Therapeuten

Therapeuten – auch Freunde und Familienangehörige -, die dem Aussteiger helfen wollen, müssen zumindest eine gewisse Kenntnis des Inhalts eines Sektenprogramms haben, um zu begreifen, was das Ex-Mitglied eigentlich zu beschreiben versucht. Auch ist es wichtig, ob man in der Lage ist zu erklären, wie die Techniken zur Verhaltensänderung funktionieren. Viele Therapeuten versuchen, den Erfahrungsschatz der Sektenmitglieder zu übergehen, um sich auf langfristige Persöhnlichkeitsmerkmale zu konzentrieren. Aber wenn er (oder sie) nichts von den Erfahrungen weiss oder verstehen kann, die ein ehemaliges Sektenmitglied quälen, dann ist der Therapeut unfähig, wirklich mit seinem Klienten zu diskutieren oder den Vorgang auch nur annähernd zu begreifen.

Viele Aussteiger fürchten, niemals mehr „normal“ leben zu können. Daher ist es wichtig und ermutigend für sie zu erfahren, dass die meisten Betroffenen aus den Diskussionsgruppen von Frau Thaler Singer sich schliesslich wieder völlig im Besitz ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten fühlen und wieder unabhängig wurden.

Eine entscheidende Hilfe für Aussteiger kann darin bestehen, dass sie Anschluss an eine gesunde christliche Gruppe oder Gemeinde finden, die selbst keine sektenähnliche Züge aufweist, sondern das Evangelium so verkündigt, dass Menschen dadurch zu mündigen Christen mit einem gesunden Selbstbewusstsein werden. Menschen, die ihre Gemeinde und die Welt differenziert zu beurteilen wissen und in der Lage sind, den Glauben ohne Druck eines Verkündigers konkret ins Leben umzusetzen.

Quellen: Psychologie heute/ AGPF - Aktion für Geistige und Psychische Freiheit

Weiterführende Links

*Die Ausführungen von Margaret Thaler Singer im Detail www.agpf.de/Singer79.htm
Zum Thema Ausstieg aus der Sekte gibt es eine Reihe von Websites, die Hinweise und Tipps vermitteln: Bei www.google.com die Suchkombination „Ausstieg aus der Sekte“ eingeben.
Suchen Sie Beratung? www.lebenshilfe.jesus.ch
Zum Dossier Sekten: www.sekten.jesus.ch

Datum: 13.06.2005
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Jesus.ch

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