Neuer Blick auf die Lage im Irak

«Vertrauen aufbauen ist die einzige Lösung, die ich sehe»

Rainer Rothfuss erforscht interreligiöse Konflikte, bis vor kurzem als Professor für geografische Konfliktforschung an der Uni Tübingen. In den Westen zu flüchten sei keine Lösung, sagt er. Und der Westen müsse seine Interventionen kritisch hinterfragen. Auf einer Tagung von «Open Doors» lieferte er einen Einblick in die gegenwärtige Lage im Irak. Livenet sprach mit ihm über seine Erkenntnisse.
Rainer Rothfuss

Livenet: Rainer Rothfuss, Sie waren im laufenden Jahr selbst im Irak und haben sich ein Bild aus erster Hand gemacht. Was haben Sie angetroffen?
Rainer Rothfuss:
Ich habe ein Land erlebt, das im Teil Kurdistan sehr stabil war, aber wo das Chaos und das Kriegsleid in Form von Flüchtlingen hunderttausendfach aus dem Süden herübergeschwappt ist. Ich habe riesige Flüchtlingslager gesehen, in denen hauptsächlich Jesiden untergebracht waren. Dabei führte ich viele Interviews, auch mit jungen Mädchen, die der Gefangenschaft von ISIS-Kämpfern entronnen waren.

Was haben sie erlebt?
Sie schilderten Grausamkeiten und berichteten, wie sie bedroht wurden, verkauft zu werden, bevor es ihnen gelang zu fliehen. Andere wurden an reiche, saudische Scheichs verkauft, aber auch an Zahlungskräftige der normalen Bevölkerung. Vielfach wurden sie als Sexsklavinnen weiterverkauft. Dieses Leid hat mich sehr aufgewühlt, weil es letztendlich auch auf Interventionen des Westens zurückzuführen ist.

Was haben Sie zur Rolle des Westens herausgefunden?
Wenn man die Rolle des Westens analysiert, kann man am Fall Irak sehr ablesen. Der Irak war, bevor Amerika mit einer Allianz Saddam Hussein angegriffen und ihn von der Macht entfernt und getötet hat, ein Staat, in dem Menschenrechte verletzt wurden, wo es auch schlimme Giftgas-Angriffe gegen die kurdische Bevölkerung gegeben hatte. Aber zum Zeitpunkt, als der Westen interveniert hatte, war der Irak ein relativ stabiler Staat, wo Christen relativ ruhig leben konnten und eine relativ starke Sicherheit genossen haben.

Und nun ist ein Exodus geschehen…
Ja, aus dem Irak sind 90 Prozent aller Christen geflohen. Und der Irak, genauso wie Syrien und die Türkei gehören ja zur Wiege des Christentums. Das waren einstmals fast ausschliesslich christliche Staaten mit bis zu 95 Prozent christlicher Bevölkerung. Und nun sind die fünf Prozent, die zuletzt noch da waren, entweder schon vollständig geflohen oder Willens, der Region zu entfliehen. Und da stellt man sich natürlich die Frage, wie man solche militärischen Interventionen des Westens bewerten muss, wenn die Situation nachher viel schlimmer ist, wenn zwar vielleicht formal die Demokratie eingeführt worden ist, aber die Menschenrechte mit Füssen getreten und die religiösen Minderheiten nicht mehr geachtet werden. Bis vor dem Bürgerkrieg war Syrien das sicherste Land für Christen im Nahen Osten – bis vor dem Bürgerkrieg. Nun sind auch aus Syrien fast alle Christen geflohen. Das heisst, der Westen sollte seine Interventionen kritisch hinterfragen.

Was ist aus Ihrer Sicht eine Lösung?
Eine Lösung in der aktuellen Situation zu finden ist extrem schwierig. Es ist auch keine Lösung, mal die eine Seite zu bewaffnen, mal die andere Seite zu bewaffnen. Wir sind in einer Phase, in der das Vertrauen zerstört ist. Und das Vertrauen in der gesamten Region wieder aufzubauen, ist der einzige Weg. Das Vertrauen zwischen den Christen und den Sunniten und den Schiiten und den anderen Religionsgemeinschaften muss wieder aufgebaut werden. Ohne dieses Vertrauen, das natürlich subjektiv für jeden Einzelnen spürbar sein muss, wird kaum jemand mehr den Wunsch haben, dort seine Zukunft aufzubauen. Ich habe bei wirklich allen Flüchtlingen den Wunsch gehört, dass sie aus der Region weg wollen. Ihr Vertrauen ins Heimatland ist zerstört, sie suchen eine Zukunft in Europa.

Ist das die Lösung?
Das ist natürlich wiederum auch keine Lösung, denn eine Flucht in die Fremde bleibt letztlich eine Herausforderung, die eine Familie um Jahrzehnte zurückwirft. Bis die Familien integriert sind, bis sie die Sprache können, bis sie mit dem Niveau der Bildung der einheimischen Bevölkerung mithalten können – das dauert Jahrzehnte, das dauert Generationen. Es gibt keine einfache Lösung; das einzige was ich sehe, ist das Aufbauen von Vertrauen und der Weg dazu geht nur über offene und ehrliche Selbstkritik der USA, der westlichen Staaten aber auch der Golfstaaten und der Türkei und ihrer Rolle im Nahost-Konflikt.

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Datum: 23.09.2015
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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