Wort (Johannes 1)

Goethe geht aus vom Kurswert des Ausdrucks

Ein tiefgründiger Gelehrter sitzt über dem Neuen Testament. Er will das Johannesevangelium übersetzen. Aber er stockt gleich am Anfang. Wie soll er das griechische lógos wiedergeben? Am Anfang war das Wort? Ein blosses Wort? Kann das der Sinn sein?

Nein. »Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen. Ich muss es anders übersetzen.« Nach wiederholtem Durchdenken schreibt Doktor Faust dann: »Am Anfang war die Tat.« Goethes Auffassung ist verständlich, weil er den Ausdruck »Wort« nach dem Kurswert nimmt, den es in unserer entwerteten Sprache hat.

Man sagt: »Das sind Worte« und meint damit Phrasen oder leere Versprechungen, mit denen Menschen einander hinhalten. Im Neuen Testament haben wir es aber nicht mit einer sinnent­leerten Sprache zu tun. Hier ist jeder Ausdruck vollwertig.

Ein richtiges Wort kommt aus dem Drang sich mitzuteilen

Ein richtiges Wort ist doch nicht ein blosser Schall oder Klang. Ein Wort, das man dem andern sagt, kommt aus dem Drang, sich ihm mitzuteilen, mit ihm Gemeinschaft zu haben, sich geistig mit ihm zu berühren. Und wenn hinter dem Wort ein mächtiger Wille, ein starker Tatendrang ist, dann wirkt es Grosses. Was für Wirkungen kann ein kurzes Wort eines Feldherrn haben!

»Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott.« Das bedeutet: Beim Allmächtigen war der urgewaltige Drang, sich mitzutei­len, Gemeinschaft zu haben mit Wesen, die ihm ähnlich wären. Dieser Wille war so mächtig; es wogte und wallte so von ihm in den Tiefen der Gottheit, dass Johannes weiter sagt: Gott war ganz dieser Wille zur Mitteilung. Gott war das Wort.

Das Wort war der allmächtige Drang des Schöpfers nach Wesen, denen er sich mitteilen kann

Damit sagt das Johannesevangelium dasselbe, was der erste Jo­hannesbrief in das Wort fasst: »Gott ist Liebe« (1. Joh. 4,8.16). Weil es die Wesen noch nicht gab, mit denen Gott die innige Gemeinschaft haben konnte, die er wollte, darum rief das Wort, sein allmächtiger Drang danach, diese Wesen ins Dasein: alle Dinge sind durch dasselbe gemacht.

Wenn es am Anfang der Bibel im Schöpfungsbericht wiederholt heisst: Gott sprach, so ist damit nicht bloss der äussere Hergang der Schöpfung beschrie­ben. Wir dürfen hier etwas hineinschauen in das grosse Ge­heimnis, wie aus den Urgründen des göttlichen Wesens unauf­haltsam und urgewaltig hervorbrach der Wille, sich mitzuteilen.

Der Drang Gottes, sich mitzuteilen, leibt und lebt im Menschen Jesus

Und dann heisst es: »Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.« Das bedeutet: Dasselbe heftige Liebesverlangen des Allmächtigen, das den Menschen ins Dasein rief, lebt weiter in ihm auch dann, als der Mensch sich von ihm gelöst hat und lange, lange seine eigenen Wege gegangen ist.

Auch ihm will der himmlische Vater sich mitteilen. Aber wie soll er es anfangen? Welche Sprache soll er sprechen, da der Mensch so irdisch, so fleischlich geworden ist, dass er vom Geist Gottes nichts mehr vernimmt? Der Zug des Schöpfers zu seinem Ebenbild findet dennoch einen Weg. Er verkörpert sich in einer Person.

Der Drang Gottes, den Menschen von seiner Liebe zu sagen, leibt und lebt in einem Menschen, der an die Schranken und Nöte der Zeit gebunden ist wie wir: Das Wort wird Fleisch. In Christus spricht Gott eine Sprache, von der auch der gottferne Mensch etwas verstehen kann.

Datum: 09.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch

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