Es ist der Mühe wert, dass wir uns mit der Frage befassen, wie die Bibelkritiker aus dem vorigen Jahrhundert zu der Überzeugung kamen, die Kunst des Schreibens sei Jahrhunderte jünger als sie tatsächlich ist. Es war eine einfache Konsequenz des evolutionistischen Denkens. Man war davon überzeugt, dass die Menschen und Völker um so primitiver sein würden, je weiter man in die Vergangenheit zurückging. Kennzeichen einer hohen Kultur, wie zum Beispiel die Schreibkunst und der Monotheismus, durften deshalb nur verhältnismässig jung sein. Die Evolutionisten staunten aber nicht schlecht, als sie entdeckten, dass die ältesten sumerischen und ägyptischen Kulturen schon aussergewöhnlich hoch entwickelt waren und eine verhältnismässig weit entwickelte Geometrie, Architektur, Astronomie, Technologie und Kunst kannten. Noch erstaunlicher war die Entdeckung, dass diesen hohen Kulturen keine langsam wachsende kulturelle Evolution vorangegangen war, sondern dass sie wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Für diejenigen, die aus wissenschaftlichen Gründen die Evolutionstheorie abweisen und an der historischen Glaubwürdigkeit von 1. Mose Kapitel 1-11 festhalten, ist das kein Problem, weil für sie diese alten Kulturen einfach die kulturellen Leistungen sind, die kurz nach der weltweiten Sintflut anzutreffen sind. Bei einer richtigen Handhabung wissenschaftlicher Datierungsmethoden stellt sich heraus, dass die primitiven Zeiten, die diesen Kulturen vorangegangen sein sollen, wegfallen. Darüber später mehr (siehe Kap. 7 und 8 und den 2. Teil dieser Buchreihe). Die Funde, die 1975 in Teil Mardich gemacht wurden, sind aber auch noch aus einem zweiten Grund sehr wichtig. Sie zeigen, dass ähnliche Geschichten, wie wir sie in Genesis finden, schon Jahrhunderte bevor Mose lebte, auf Tontafeln festgehalten worden sind. Das wiederum wirft ein überraschendes neues Licht auf eine schon etwas ältere, interessante Theorie von P. J. Wisemann ("Entdeckungen über 1. Mose", De Haan, Groningen 1960): Aufgrund allerlei literarischer Kennzeichen des 1. Buches Mose kam er zu dem Schluss, dass dieses Buch wahrscheinlich ursprünglich in einer sehr alten Schrift auf Tontafeln geschrieben wurde und zwar von den Erzvätern selber, die am besten Bescheid wussten über alle Geschehnisse. Mose würde dann das Buch, wie wir es heute vor uns haben, zusammengestellt haben. Er selber würde in dem Buch andeuten, aus welchen Quellen er geschöpft habe, zum Beispiel durch den Satz: "Dies ist die Geschichte (= Geschlechtsregister, die Nachkommenschaft usw., hebr. toledot) von..." Das können wir unter anderem in 1. Mose 2,4; 5,1; 6,9 und 10,1 sehen; hier würden dann immer Anfang oder Ende einer Tontafel angedeutet. Wegen der guten wissenschaftlichen Grundlage dieser Theorie und der damit verbundenen Lösung vieler Probleme glauben wir, dass sie sehr wichtig ist, vor allem im Blick auf die vor kurzem gefundenen Tontafeln. Aber hierauf wollen wir später noch eingehen.
Datum: 08.11.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel