Inzwischen musste auch die Identifizierung der Juden mit diesen ihren heiligen Schriften sehr zugenommen haben, weil Israel unter dem König Nebukadnezar seinen heiligen Tempel verloren und damit auch der Opferdienst ein Ende gefunden hatte. So griffen die Israeliten auf das zurück, was sie noch erhalten und früher oft vernachlässigt hatten (vgl. 2. Chronik 34,14-19): ihre Bibel! Sie hatten wahrscheinlich schon vor und während der Gefangenschaft in Babel Versammlungsorte (für den Unterricht durch Leviten), die später im Griechischen Synagogen genannt wurden, wo man sich dem Bibelstudium und dem Gebet widmete. Die Synagoge wurde später ein Ersatz für den Tempel und das Vorlesen der Thora (Pentateuch, Gesetz) ein Ersatz für den Opferdienst. Die Synagoge spielte auch eine wichtige Rolle als Versammlungsort und Begegnungsstätte; vielleicht finden wir dafür einen Hinweis in Hesekiel 14,1 und 20,1. In der Synagoge wurden auch kostbare Gesetzesrollen aufbewahrt, aus denen zu den Sabbaten und Feiertagen vorgelesen wurde. Nach der Gefangenschaft wurden diese Schriften mit nach Israel zurückgebracht, und dort nahm das Vorlesen des Gesetzes bald eine wichtige Stellung ein (siehe Esra 7,6 + 10 + 25 ff; Nehemia 8 und 13,1). Nicht alle Juden kehrten nach Israel zurück; auch waren nicht alle in die Gefangenschaft nach Babel geführt worden. In Jeremia 41-44 lesen wir, dass eine grosse Anzahl Juden hinunterzog nach Ägypten, um sich dort niederzulassen; seitdem war Ägypten nie mehr ohne eine jüdische Kolonie. Grosse Bedeutung erlangten die Juden vor allem in der Stadt Alexandrien, die Alexander der Grosse im Jahre 332 v. Chr. gründete. Praktisch von Anfang an spielten sie in dieser Stadt eine sehr wichtige Rolle; zu Beginn unserer Jahreszählung war die Hälfte der Stadt jüdisch, und in ganz Ägypten gab es etwa eine Million Juden! Diese Juden waren immer weniger mit dem Hebräischen vertraut und sprachen das in Alexandrien übliche Griechisch. Das bedeutete einen ganz neuen Abschnitt in der Geschichte der Bibel! Wenn die Bibel für die alexandrinischen Juden überhaupt noch eine Bedeutung haben sollte, dann musste sie übersetzt werden. Und damit wurde, soweit wir wissen, die Bibel das erste übersetzte Buch der Welt (siehe Kapitel 1). An dieser griechischen Übersetzung, die in Alexandrien im 3. Jahrhundert vor Christus angefangen wurde, arbeiteten zuerst mehrere Übersetzer unabhängig voneinander. Zum Schluss, im zweiten Jahrhundert v. Chr., kam die Standardversion des griechischen Alten Testaments zustande, die seitdem Septuaginta (_ "siebzig") genannt wird. Diese Bezeichnung entstand nach einer Erzählung, die besagt, dass diese Übersetzung von 72 Gelehrten erarbeitet worden sei, sechsvon jedem Stamm Israels. Bald wurde diese Übersetzung überall dort benutzt, wo es im Mittelmeergebiet Synagogen gab. Wenn im Neuen Testament Texte aus dem Alten Testament angeführt werden, wird sehr oft diese Übersetzung zitiert. Die Septuaginta war von grösster Bedeutung für die ersten Christen, weil diese durch die Septuaginta bei ihrer Verkündigung Zugang hatten zur ganzen Welt der Antike, in der die griechische Sprache gesprochen wurde. Bei der Jesajarolle, aus der der Kämmerer der Königin von Äthiopien las (Apg. 8,26-40), handelte es sich zweifellos um einen Teil der Septuaginta. In späteren Auseinandersetzungen mit den Juden benutzten die Christen immer die Septuaginta; dadurch verloren die Juden immer mehr ihr Interesse an dieser griechischen Version. Eine andere Ursache für diesen Interessenverlust war ihr wiedererwachendes Interesse für das hebräische Alte Testament, wie wir später sehen werden (Kap. 3). Neben der bewundernswerten Arbeit, die sich die Juden etwa vom Jahre 100 bis 900 n. Chr. mit dem hebräischen Text des Alten Testaments machten, verfassten sie auch ihre eigenen neuen griechischen Übersetzungen, wie die von Aquila, Theodotion und Symmachus.
Datum: 02.11.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel