Die Masoreten

Vom Jahre 500 bis 1000 n. Chr. waren die Masoreten an der Arbeit. Ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, den heiligen Text mit Vokalen und Lesezeichen zu verse­hen. Damals war die hebräische Sprache als Landessprache verschwunden, darum wusste man nicht mehr genau, wie der Text ausgesprochen werden musste. Die Punkte und Streifen im Text oben sind die Laut- und Lesezeichen der Masoreten; das abge­bildete Fragment ist die Handschrift 455, eine Seite aus dem Buch Prediger.

Bis jetzt konnten wir zwei Phasen der Überlieferung des Alten Testaments unterscheiden: das Schreiben und Zusammenstellen, das zur Zeit Esras und Nehemias beendet wurde, und die zur gleichen Zeit beginnende Arbeit der Sopherim, die das Alte Testament (vor allem die Thora) gewissenhaft und genau studierten und mit äusserster Sorgfalt kopierten. Etwa um 500 n. Chr. begann nun die dritte Phase, die ungefähr im Jahre 1000 zu Ende ging. In dieser Periode wurden nämlich die neuen Schulen der Schriftgelehrten aktiv, die sich nicht nur mit dem gewissenhaften Kopieren des Textes beschäftigten, sondern auch mit der Redaktion und Standardisierung des überlieferten Textes. Man nannte diese jüdischen Gelehrten Masoreten (Masora = Tradition, Überlieferung); ihre wichtigste Aufgabe war es wohl, den heiligen Text mit Lesezeichen und Selbstlauten (Vokalen) zu versehen. Der Charakter der hebräischen Sprache liess es zu, dass sie nur mit Mitlauten geschrieben werden konnte (wie es noch heute der Fall ist im Neuhebräischen oder Iwrith), solange sie eine lebendige Sprache war und die Vorleser durch Überlieferung wussten, wie die Worte ausgesprochen werden mussten. Als jedoch das Hebräische als Umgangssprache nach und nach verschwand, war es nicht mehr für jeden klar, wie der heilige unantastbare Text ausgesprochen werden musste. So entstand das Bedürfnis, die überlieferte Sprache durch ein vernünftiges System von Lese- und Lautzeichen festzulegen, die dem Text hinzugefügt wurden.

Die Schulen der Masoreten befanden sich in zwei Zentren, in denen schon von alters her die Schriftgelehrten ihre Arbeit verrichtet hatten, nämlich in Babylonien und Palästina (daher gibt es sowohl einen babylonischen als auch einen palästinensischen Talmud). Die Juden in Babylonien waren wegen der aufkommenden hellenistischen (griechisch-kulturellen) und christlichen Einflüsse dorthin ausgewichen. Hier gesellten sie sich zu den jüdischen Nachkommen derer, die sich dort seit der babylonischen Gefangenschaft angesiedelt hatten. Nach dem dritten Jahrhundert entstanden in Tiberias (Nord-Palästina) "Schriftgelehrtenzentren", die noch an Bedeutung zunahmen, als Jerusalem im Jahre 637 vom Islam erobert wurde. Man könnte eine ganze Menge über die interessante Arbeit der Masoreten erzählen, aber wir müssen uns hier auf die wesentlichen Punkte beschränken.

Die Masoreten gingen bei ihrer Arbeit von dem durch die Sopherim überlieferten Mitlaut-Text aus, von dem sie eine offizielle Standardversion festlegten, die dann für sie unanfechtbar war. Anschliessend machten sie neben dem Text eine Reihe Randbemerkungen und brachten auch im Text selber eine Anzahl Zeichen, vor allem Lese- und Selbstlautzeichen, an. Die Randbemerkungen, die die Masora bilden, umfassten u.a. Zählungen aller Buchstaben, Worte und Verse in einem Buch der Bibel und sollten ein genaues Abschreiben des Mitlaut-Textes sicherstellen. Darüber hinaus wurde z.B. auch ausgerechnet, welcher Buchstabe und welcher Vers die Mitte eines jeden Bibelbuches und auch der gesamten hebräischen Bibel bildeten. Man rechnete aus, wie oft bestimmte Worte in einem Bibelbuch oder in der gesamten Schrift vorkamen; und sogar, wie oft jeder Buchstabe des Alphabetes vorkam. Die Masoreten machten sich neben dem Text sogenannte "Eselsbrücken", um solche Angaben gut behalten zu können. Vielleicht kommt uns das heute übertrieben vor, aber es beweist die grenzenlose Ehrfurcht der Masoreten vor dem heiligen Text, dass sie davon nicht einmal den kleinsten Buchstaben oder Teil eines Buchstabens verloren gehen lassen wollten.

Ausserdem finden wir in den Masoretenhandschriften redaktionelle Bemerkungen. Die Masoreten wagten es nicht, an dem überlieferten Mitlaut-Text etwas zu verändern, aber oft machten sie eben diese Randbemerkungen, um auszudrücken, wie ihres Erachtens der "geschriebene" Text (Ketibh genannt) gelesen werden musste. Diese von ihnen vorgeschlagene Lesart nannte man die "Qere". Das berühmteste Beispiel einer Qer6 finden wir beim Namen Gottes. Dieser wird im Hebräischen mit den vier Mitlauten JHWH geschrieben, der ursprünglich sehr wahrscheinlich JaHWeH ausgesprochen wurde. Aber da sich die Juden nach der Zeit Nehemias aus Angst vor Missbrauch nicht mehr trauten, diesen Namen auszusprechen, wurde beim Vorlesen der Bibel in den Synagogen statt JaHWeH der Name Adonai (aDoNaJ, "Herr") gelesen. Zur Erinnerung daran fügten die Masoreten den Mitlauten JHWH immer Selbstlaute von aDoNaJ zu; dadurch entstand wahrscheinlich das ursprünglich nicht bekannte Wort JaHoWaH, oder auch "Jehova". Ein missverstehen dieser "Qere" führte dazu, dass die Christen lange Zeit meinten, der Name Gottes sei Jehova, anstatt Jahwe.

Die Masoreten wandten aber noch ein anderes Mittel an, so dass man mehr las als tatsächlich dastand. Sie fügten einfach einen Mitlaut ein. Dieser stand aber zur Unterscheidung zum bestehenden unantastbaren Konsonantentext höher über der Linie und wurde darum litera suspensa ("schwebender Buchstabe") genannt. Ein gutes Beispiel dafür finden wir in Richter 18,30; hier ist die Rede von einem gewissen Götzenpriester Jonathan, einem Enkel des Mose. Diese "Befleckung" des Namens Mose, des grossen Knechtes Gottes, wurde als anstössig empfunden. Darum fügte man hier dem MSH (Mose) einen schwebenden Buchstaben (N) hinzu, so dass der Name MNSH (Manasse) entstand. In alten Bibelübersetzungen hat man diese Veränderung nicht immer beachtet.

Andere redaktionelle Randbemerkungen bezogen sich nicht auf die Frage, ob aus Ehrfurcht oder Pietät bestimmte Worte besser anders gelesen werden sollten, sondern darauf, ob der Text selber hier und dort vielleicht ungenau überliefert wurde. So setzten in 4. Mose 3,39 die Masoreten Punkte über die Worte "und Aaron", weil sie meinten, dass diese eigentlich nicht in den Text gehörten. Genauso verfuhren sie mit 4. Mose 10,35 + 36, indem sie diese zwei Verse zwischen zwei umgekehrte hebräische Buchstaben N setzten. Es ist interessant, festzustellen, dass die Masoreten der Ansicht waren, der Text des Alten Testaments sei in 18 Fällen durch frühere Schriftgelehrte geändert worden. Aus Ehrfurcht vor dem Mitlaut-Text wollten sie diese nicht zurückverändern, zeigten aber wohl auf, wo diese "tigqune-Sopherim" (Verbesserungen der Schriftgelehrten) vorkamen. So lesen wir in 1. Mose 18,22 "... aber Abraham blieb stehen vor dem Herrn"; nach Ansicht der Masoreten standhier ursprünglich: "... aber Jahwe blieb stehen vor Abraham." Die Schriftgelehrten änderten das aber, weil sie lieber den heiligen Text verändern wollten, als bei der Vorlesung den Eindruck zu erwecken, dass Jahwe eine (unwürdige) abwartende Haltung gegenüber Abraham einnahm.

Die wichtigste Arbeit der Masoreten bestand aber ohne Zweifel in den zwei Arten der Text-Ergänzung: den Lesezeichen, die die Art und Weise des Vortrages des Textes bestimmten, und den Lautzeichen, die ein für allemal die überlieferte Aussprache des Textes unzweideutig festlegten. Die Laute wurden durch Punkte oder kleine Striche angedeutet, die über oder unter dem Mitlaut plaziert wurden. Sowohl in Babylonien als auch in Palästina wurden so auf diesem Gebiet nach und nach bestimmte Systeme entwickelt, die aber schliesslich von dem Lautsystem, das in Tiberias ausgearbeitet wurde, verdrängt wurden. Die Masoreten, die die wichtigste Rolle bei der Feststellung des mit Randbemerkungen und Lauten versehenen Textes gespielt haben (ein Text, der bis ins kleinste Detail festgelegt war), gehörten zu der Familie Ben Ascher in Tiberias, von denen Mosche Ben Ascher und sein Sohn Aaron Ben Mosche Ben Ascher die Bedeutendsten waren (9/10. Jhdt. n. Chr.). Es sind ihre Handschriften, die heute die Basis der gedruckten hebräischen Bibel bilden. Daneben können die Handschriften der Familie Ben Naphtali genannt werden, deren Bedeutung aber geringer eingestuft wird.

Datum: 20.10.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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