Die Schriftgelehrten

Die Kopierer der Bibelbücher haben bei der Überlieferung des Textes eine äusserst wichtige Rolle gespielt. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, wurde abgeschrie­ben. Diese Schriftgelehrten (Sopherirn) mussten sich beim Kopieren an sehr strenge Regeln halten. Wenn sie fertig waren, wurden die Buchstaben und Wörter gezählt, und wenn eines fehlte, mussten sie wieder neu beginnen. Diese strenge Kontrolle und die grosse Ehrfurcht vor dem Text haben dafür gesorgt, dass die Bibel unverändert dem Zahn der Zeit widerstehen konnte.
Die heiligen Thora-Rollen werden in der jüdischen Synagoge aufbewahrt in der »Hei­ligen Lade«. Die Rollen sind oft ehrfurchtsvoll in schön bestickte und bearbeitete Tücher eingehüllt. Wenn solch eine Bruchrolle abgenutzt ist, wird sie nicht wegge­worfen, sondern vergraben. Eine neue Rolle wird, auch heute noch, anhand der al­ten Rolle von Hand kopiert, ehe man diese vergräbt.
Der Bibeltext ist den Rabbinern so heilig, dass er beim Vorlesen nicht einmal mit den Fingern berührt werden darf. Darum gebrauchte man zierliche goldene oder sil­berne Händchen »jat« genannt.

Nach dem Schreiben und dem Zusammenfügen der Bücher des Alten Testaments begann dann eine neue Periode. Nun ging es darum, die hebräische Bibel der Nachkommenschaft möglichst originalgetreu zu überliefern. Wir haben gesehen, dass die Zusammensteller des Alten Testaments eine tiefe Ehrfurcht vor den heiligen Büchern hatten und sie an den allerheiligsten Orten aufbewahrten. Diese Zusammensteller waren, wie wir gesehen haben, Propheten; aber der (vermutlich) letzte von ihnen, Esra, war ein Vertreter der Priesterklasse, die für die Bibel von zunehmender Bedeutung wurde. Esra war zugleich Priester und Schriftgelehrter (Nehemia 8,10). Die Schriftgelehrten (buchstäblich "Schreiber") waren ursprünglich politische oder juristische Funktionäre, die oft am Hof des Königs waren (siehe z.B. 2. Könige 12,10; 18,18; 1. Chronik 27,32). Erst nach der babylonischen Gefangenschaft begannen die Schriftgelehrten, eine Rolle als Kopierer, Erhalter und Ausleger des Gesetzes (Esra 7,6 + 11) zu spielen. Im zweiten Jahrhundert vor Christus waren die meisten Schriftgelehrten Priester. Siehe dazu das apokryphe (-nicht kanonische, aber wohl alte) Buch 1. Makkabäer 7,12. Wahrscheinlich wohnten sie zusammen in Sippen und "Geschlechtern" (vgl. 1. Chronik 2,55). Ihre wichtigste Aufgabe war das ganztägige Studium des Gesetzes, und das war nicht mit einem normalen Beruf zu kombinieren. (Siehe das apokryphe Buch Jesus Sirach 38,25-39.)

Diese Schriftgelehrten (die .Sopherim) waren die Gründer der Gottesdienste in den Synagogen, wovon wir in Kapitel 2 sprachen. Zur Zeit des Neuen Testaments beinhaltete ihr Amt eine dreifache Aufgabe (danach waren aber lange nicht mehr alle Schriftgelehrten auch gleichzeitig Priester):

a. Sie kopierten das "Gesetz" (die hebräische Bibel), und bewahrten es auf; sie forschten gründlich in ihm und verteidigten es; vor allem, als sich falsche Elemente in die Priesterklasse einschlichen. Sie überlieferten ungeschriebene Gesetzesauslegungen, die aus ihren Bemühungen, das Gesetz des Mose im täglichen Leben anzuwenden, entstanden. In der Praxis aber stellten sie dieses mündlich überlieferte Gesetz über das geschriebene (Markus 7,5 ff.) und kamen dadurch mit Jesus Christus in Konflikt.

b. Die Schriftgelehrten sammelten Schüler um sich, die sie in der Thora unterwiesen. Dieses geschah im Tempel oder in den Synagogen (vgl. Lukas 2,46; Johannes 18,20).

c. Sie wurden auch "Gesetzeslehrer" oder "Lehrer des Gesetzes" genannt, weil sie als Richter im jüdischen Hohen Rat, dem Sanhedrin, mit der Anwendung des Gesetzes beauftragt waren (vgl. Matthäus 22,35; Markus 14,53; Apostelgeschichte 4,5).

Nach dem Fall von Jerusalem im Jahre 70 wurde die Rolle der Schriftgelehrten noch wichtiger: Sie legten das mündliche Gesetz (siehe oben Punkt a) schriftlich nieder und überlieferten die Heiligen Schriften sehr textgetreu. Das erste (Verfassung des mündlich überlieferten Gesetzes) führte zur Entstehung des Talmuds, der neben der Bibel das wichtigste jüdische Gesetzbuch ist. Der Talmud besteht aus zwei Teilen: die Mischna, das ursprüngliche, mündliche Gesetz, das seit den Tagen Esras langsam gewachsen war und gegen Ende des 2. Jhdts. nach Christus vom Fürsten Rabbi Juda gesammelt wurde, und die Gemara-Kommentare der Rabbiner zur Mischna (ca. 200-500 n. Chr.). Der Talmud ist die Quelle der jüdischen religiösen und bürgerlichen Gesetzgebung und für Glauben und Leben der orthodoxen Juden verbindlich. Für die Christen ist der Talmud ein interessantes Buch, weil er die Frage beleuchtet, wie die Juden das Alte Testament auslegen und wie manche Teile des Neuen Testaments verstanden werden müssen. Neben der Katalogisierung jüdischer Gesetze hatten die "Talmudisten" noch eine weitere genauso wichtige Aufgabe, nämlich die gewissenhafte Überlieferung der heiligen Buchrollen. Man kann sich kaum vorstellen, welch ein minuziöses System die Talmudisten ausgearbeitet haben, um die Rollen nahezu perfekt zu kopieren. Nichts kann die tiefe Ehrfurcht, die die gläubigen Juden vor dem Alten Testament haben, besser illustrieren als die genauen Vorschriften aus dem Talmud, von denen sie bei diesem Kopieren geleitet wurden. Einige Beispiele:

(1) Eine Buchrolle musste auf den Häuten von kultisch reinen Tieren geschrieben werden, die wiederum mit Sehnen von ebenso reinen Tieren zusammengefügt werden mussten.
(2) Die Länge eines jeden Abschnittes musste zwischen 48 und 60 Zeilen liegen, und die Breite musste aus dreissig Buchstaben bestehen.
(3) Das ganze Manuskript musste zuerst liniert werden. Wenn aber drei Worte ohne eine Linie geschrieben wurden, war das Ganze wertlos.
(4) Die Tinte durfte nur schwarz sein und musste nach einem speziellen Rezept zubereitet werden.
(5) Als Vorlage musste ein authentisches Manuskript gebraucht werden, und davon durfte der Schreiber nicht im Geringsten abweichen.
(6) Kein Wort oder Buchstabe durfte auswendig (aus dem Gedächtnis) aufgeschrieben werden, also ohne dass der Kopierer vorher auf die Vorlage geschaut hätte.
(7) Zwischen den Buchstaben musste ein Zwischenraum gelassen werden, so breit wie ein Haar oder ein Draht; zwischen den Paragraphen ein Abstand von neun Buchstaben und zwischen den Büchern ein Freiraum von drei Zeilen. (
8) Der Kopierer musste Jude sein, in ein rein jüdisches Gewand gekleidet und sein Körper ganz gewaschen.
(9) Wenn der Name Gottes geschrieben wurde, durfte die Feder nicht gerade neu in die Tinte eingetaucht worden sein.
(10) Selbst wenn der Schreiber von einem König angeredet wurde, während er gerade den heiligen Namen Gottes schrieb, durfte er ihn nicht beachten. BuchroIlen, die diesen Vorschriften nicht entsprachen, mussten verbrannt oder vergraben werden, oder man verbannte sie auf die Schulen, wo sie als Lesebücher benutzt wurden.

Wie merkwürdig es auch klingen mag: Die äusserste Sorgfalt, mit der das Kopieren geschah, erklärt zugleich, warum wir so wenig ganz alte Handschriften des Alten Testaments besitzen. Wenn ein Manuskript nach den oben genannten Vorschriften fertiggestellt und gründlich überprüft worden war, betrachtete man es als genauso authentisch und gleichwertig wie die alte Kopie. Da nun alle Kopien mit dem alten Manuskript identisch waren, betrachtete man die neue Kopie als wertvoller, weil das alte Manuskript oft schon leicht beschädigt war. Solche alten "mangelhaften" Handschriften wurden in der Geniza aufbewahrt, einem Abstellraum, der in jeder Synagoge zu finden war. Diese Handschriften gingen entweder durch Vernachlässigung verloren oder wurden vergraben, wenn das Zimmerchen zu voll wurde. Die Juden hielten also nicht die kälteren, sondern gerade ihre neuesten Handschriften für die wertvollsten, so dass das Fehlen sehr alter Manuskripte des Alten Testaments uns nicht zu beunruhigen braucht. Übrigens stammen manche der Handschriften, die wir heute noch haben, gerade aus solch einer Geniza (siehe unten).

Datum: 21.10.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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