Die ersten Handschriften-Funde

Der Codex Bezae, 5./6. Jhdt., wurde von Beza, einem Schüler Calvins, der Univer­sität von Cambridge geschenkt. Für die protestantischen Bibelübersetzungen des 16. und 17. Jhdts. war dies die älteste Handschrift, die man hatte. Der Text ist Grie­chisch und Latein und zeigt hier Joh 21, 19-25
Der Codex Alexandrinus stammt aus dem 4. Jhdt. n. Chr. und enthält sowohl das Alte als auch das Neue Testament, hier ein Ausschnitt aus Lk. 24. Als Geschenk des Patriarchen von Konstantinopel an König Karl I (1627) von England ist der Co­dex nun im Britischen Museum in London zu besichtigen. Weil er im Jahr 1078 in den Besitz des Patriarchen von Alexandrien kam, wurde der Codex nach diesem Ort benannt.

Im Augenblick existieren etwa 5000 Handschriften, die entweder das ganze oder Teile des griechischen Neuen Testaments beinhalten. Diese Summe der Handschriften ist aber erst in jüngster Zeit so enorm angewachsen, denn es ist noch nicht so lange her, dass die Christen kaum oder keine echten alten Handschriften besassen. Im 16. und 17. Jahrhundert, als die grossen protestantischen Bibelübersetzungen entstanden, kannte man ausser dein Codex Bezae (eine Handschrift aus dem sechsten Jahrhundert, die Calvins Schüler Beza 1581 der Universität von Cambridge schenkte) keine Handschriften, die älter als aus dem elften Jahrhundert waren. Aber sonst lag zwischen den Autographa und ältesten Handschriften eine Zeitspanne von nicht weniger als tausend Jahren! Heute können wir eine klare Antwort auf eine Frage geben, deren Lösung damals fast unmöglich schien: Hatten die Bibelübersetzer einen glaubwürdigen Bibeltext? Die Antwort darauf ist ein klares Ja. Hinzu kommt, dass wir heute einen noch glaubwürdigeren Text haben! Für manche Teile des Neuen Testaments hat die Zeitspanne von tausend Jahren sich bis auf fünfzig Jahre oder noch weniger verringert. Das ist das grossartige Resultat von dreihundert Jahren Forschung - und die Arbeit geht weiter.

Es begann im Jahr 1627, als König Karl L von England vom Patriarchen von Konstantinopel einen sehr alten Codex geschenkt bekam. Dieser Codex war 1078 in den Besitz des Patriarchen von Alexandrien gekommen, daher der Name Codex Alexandrinus. Wahrscheinlich ist er während der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts in diesem Ort entstanden. Er enthält nahezu die ganze griechische Bibel (Altes und Neues Testament) und einige apokryphe Bücher und wurde in Unzialen auf sehr dünnem Vellum geschrieben (siehe Kap. 2). Erst im 18. Jhdt. wurde dieser wichtige Codex als Ganzes publiziert; aber inzwischen hatte er schon ein eifriges Forschen hauptsächlich englischer und deutscher Gelehrter in Gang gebracht, die noch andere alte Handschriften zu finden hofften. Zwar gebrauchte man nach wie vor für die Ausgabe des griechischen Testaments den "Textus Receptus" ("akzeptierten Text", den griechischen Text von Stephanus aus dem Jahr 1550 - siehe Kapitel 2 -, der Ausdruck selbst stammt aus dem Vorwort zur Ausgabe von Elzevir im Jahre 1633), es wurden aber inzwischen immer mehr Textvarianten bekannt. Im Jahr 1707 brachte John Mill ein griechisches Neues Testament heraus, in dem er dem Text von Stephanus die Textvarianten von 78 neuen Handschriften hinzufügte (siehe unten), sowie daneben eine Reihe antiker Übersetzungen und Bibelzitate von Kirchenvätern. Alle Gelehrten, die es wagten, einen revidierten Text herauszugeben, wurden scharf angegriffen, weil man dies als Mangel an Ehrfurcht ansah!

Der grosse Gelehrte Richard Bentley aber verteidigte diese Männer. Er hatte einen schweizerischen Schüler, J. J. Wetstein, der 1752 erstmalig eine Liste der zur Verfügung stehenden Unzialen und Minuskein (siehe Kapitel 2) publizierte, und zwar nach einem Buchstabenkode, der bis heute Gültigkeit hat (siehe unten). Diese Arbeit wurde von vielen Gelehrten ergänzt, bis schliesslich J. M. A. Scholz im Jahre 1830-36 einen Katalog publizierte, der so komplett wie nur irgend möglich war und der etwa tausend Handschriften enthielt. Die überwiegende Mehrheit dieser Schriften bestand aus Minuskeln (also nicht älter als aus dem 10. Jahrhundert), obwohl auch schon einzelne sehr wichtige Unzialen bekannt waren. Neben dem Codex Alexandrinus und dem Codex Bezae war vor allem der Codex Vaticanus eine der wichtigsten Handschriften des Neuen Testaments. Er enthält nahezu die ganze griechische Bibel und die apokryphen Bücher und muss zwischen 325 und 350 geschrieben worden sein. Dieses Manuskript befand sich, mindestens seit dem 15. Jahrhundert, in der Bibliothek des Vatikans, wurde aber erst im Jahre 1889-90 als Ganzes publiziert. Ausser in der kurzen Zeit, in der die Handschrift als Teil der Beute Napoleons nach Paris gebracht wurde, hatte man den Codex Vaticanus vorher wenig beachtet. Als er nach dem Sturz Napoleons nach Rom zurückgebracht wurde, gewährten die Behörden des Vatikans den ausländischen Gelehrten keinen Einblick mehr in den Codex, weil sie selbst eine Herausgabe dieses Codex erwogen - aber daraus wurde vorläufig nichts.

Erste Revision des Textes

Um 1830 war man also im Besitz einiger sehr alter Unzialen, hatte aber daneben noch eine überwältigende Menge bedeutend jüngerer Handschriften, die fast alle ein und denselben Texttypus aufwiesen, den man "Byzantinisch". nennt, und der als Textus Receptus bekannt wurde. Der Lutherübersetzung z.B. liegt dieser Text zugrunde, und es brauchte schon seine Zeit, bis die grossen Gelehrten einsahen, wie viele Unvollkommenheiten er enthielt und wie viele wichtige Verbesserungen die alten Unzialen boten. In dieser Hinsicht waren drei grosse deutsche Gelehrte Wegbereiter: sie legten den Grund für die moderne "Textkritik"* (siehe Kapitel 3) des Neuen Testaments. Es waren J. A. Bengel (seine Ausgabe erschien 1734), J. S. Semler (1767) und J. J. Griesbach (3 Ausgaben von 1774-1805). Sie verglichen die zur Verfügung stehenden Handschriften und antiken Übersetzungen und Bibelzitate der Kirchenväter miteinander und suchten nach übereinstimmenden Texttypen; bis schliesslich Griesbach alle in drei Gruppen aufteilte; (a) die alexandrinische Gruppe (wozu damals neben dem Vaticanus und dem Alexandrinus - ab Apostelgeschichte - vor allem eine Reihe Übersetzungen und Zitate der Väter der Ostkirche gehörten), (b) der westliche Text (incl. Codex Bezae und Iateinische Kirchenväter und Übersetzungen) und (c) der byzantinische Text = Textus Receptus (incl. Codex Alexandrinus in den Evangelien und die grosse Menge späterer Handschriften). Diese Einteilung wurde später präzisiert, wird aber im wesentlichen immer noch angewandt. Der Gedanke, dass einige sehr alte Unzialen und antike Übersetzungen in vielen Punkten einen besseren Text als die vielen Hundert späteren Handschriften bieten würden, erntete um 1830 noch sehr viel Widerstand! Es sollten aber grosse Veränderungen stattfinden.

* Die Textkritik ist die bedeutende Wissenschaft, die sich mit der richtigen Fassung des ursprünglichen Bibeltextes an Hand objektiver Kriterien beschäftigt, obwohl sie manchmal von den Irrungen der "Bibelkritik" beeinflusst wird (einigen Textkritikern begegnen wir in Kapitel 7 und 8 als "Bibelkritikern").

Im Jahre 1831 begann der Durchbruch mit einem griechischen Neuen Testament von Karl Lachmann, das 1842-50 zu einer sehr verbreiteten Ausgabe wurde. Lachmann schob den Textus Receptus einfach beiseite und konzentrierte sich auf einige Unzialen, antike Übersetzungen und Kirchenväter. Das war zwar das andere Extrem, brachte aber die textkritische Pionierarbeit ein enormes Stück voran. Denn nun erschien ein anderer junger Gelehrter auf der Bildfläche, der eine Menge neuer Handschriften sammelte wie sonst niemand vor oder nach ihm: 18 Unzialen und sechs Minuskeln; er veröffentlichte zum ersten Male 25 Unzialen und veranlasste dann eine neue Ausgabe von elf anderen, von denen manche äusserst wichtig waren. Dieser Gelehrte war Konstantin Tischendorf (1815-1874). Er gab nicht weniger als acht Ausgaben des griechischen Neuen Testaments heraus, vier des lateinischen und vier von der Septuaginta, ausserdem noch apokryphe Evangelien, Briefe und Ausgaben der einzelnen Handschriften. Wir wollen nun ganz kurz über einige seiner grössten Entdeckungen berichten. Eine davon gehört zu dem Sensationellsten aus der Geschichte der Bibel.

Datum: 08.08.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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