Prinzipien der Textkritik

Textzeugen

Der Leser wird inzwischen einigermassen Einblick bekommen haben in die Arbeit der Textkritik und hat damit die GIaubwürdigkeit des Textes des Neuen Testaments erkannt. Es gibt Menschen, die sich darüber herablassend äussern und etwa behaupten: "Es gibt mindestens 200000 verschiedene Varianten des griechischen Textes, wie kann man da jemals ernsthaft behaupten, der Text unseres heutigen Neuen Testaments sei glaubwürdig!" In Wirklichkeit verhält es sich aber so, dass 95 % dieser 200'000 Varianten sofort zur Seite gelegt werden können, weil sie derartig indiskutabel sind oder von so wenig anderen Textzeugen unterstützt werden, dass kein einziger Kritiker ernsthaft ihre Authentizität in Betracht ziehen würde. Von den übrigen 10000 Varianten aber stellt sich heraus, dass es bei ihnen zu 95 o nicht um die Bedeutung des Textes geht, sondern nur um Fragen wie Buchstabierung, Grammatik und Reihenfolge der Worte. Wenn zum Beispiel ein einziges Wort in 1000 Handschriften falsch buchstabiert wurde, betrachtet man diese als 1000 Varianten. Von den verbleibenden 5 % (ca. 500 Varianten) sind nur etwa 50 von grösserer Bedeutung, und auch hier kann man in den meisten Fällen dank ausreichendem Vorhandensein anderer Textzeugen mit grösster Wahrscheinlichkeit den richtigen Text rekonstruieren. Es besteht nicht der geringste Zweifel darüber, dass 99 % der Wörter des Neuen Testaments, wie wir es heute kennen, richtig überliefert sind, während wirklich wichtige Varianten nur 0,1 % der Wörter ausmachen. Keine einzige fundamentale christliche Lehre basiert auf einer zweifelhaften Variante, und keine einzige neue Variante hat jemals zur Revision eines bestimmten Lehrinhalts geführt.

Wir können also völlig sicher sein, dass wir, abgesehen von einigen vollkommen unwichtigen Kleinigkeiten, praktisch denselben Text in Händen haben, den die Bibelautoren niederschrieben. Die Menge griechischer Handschriften (ca. 5000) und Handschriften antiker übersetzungen (ca. 9000) ist ausserdem so gross, dass es nahezu sicher ist, dass die richtige Lesart eines jeden umstrittenen Bibelteils in mindestens einem dieser alten Zeugen enthalten ist. Dies kann von keinem anderen literarischen Werk der Antike gesagt werden! In allen anderen Werken der Literatur finden wir Stellen, in denen der Text deutlich erkennbar angetastet ist, bei denen man aber nicht über andere Lesarten verfügt. In solch einem Fall kann der Textkritiker die richtige Schreibweise des ursprünglichen Textes oft nur erraten und versuchen zu erklären, wie der Schreibfehler der anderen Lesarten entstanden sein könnte. Das Erstaunliche ist aber jetzt, dass es wahrscheinlich im ganzen Neuen Testament keine einzige Stelle gibt, wo solch ein "Erraten" angewandt werden musste. Wohl hat man früher manchmal eine andere Lesart erst als "Glückssache" vorgestellt, aber im Laufe der Zeit wurde diese dann in einer der anderen Handschriften entdeckt.

Die Fehler, die beim Kopieren der Manuskripte entstanden sind, waren Varianten, die meistens aus Versehen, aber manchmal auch mit Absicht angebracht wurden. Die versehentlichen Fehler waren neben normalen Schreibfehlern unter anderem Fehler des Auges (Fehlen, Verdoppelung oder Vertauschen von Buchstaben oder Worten usw.), des Ohres (falsches Verstehen, wenn diktiert wurde), des Gedächtnisses (z.B. Ersetzen durch Synonyme oder Beeinflussung durch parallele Schriftstellen) und des Beurteilens: manchmal wurden aus Versehen Randbemerkungen in den Text aufgenommen, weil man annahm, sie gehörten dahin. Vielleicht gehören Johannes 5,3 b und 4, Apostelgeschichte 8,37 und 1. Johannes 5,7 zu dieser Kategorie; es kann aber auch sein, dass diese Verse absichtlich als Iehrhaft hinzugefügt worden sind. Das bringt uns zur Gruppe der absichtlichen Veränderungen. Dazu gehören Veränderungen in Buchstabierung und grammatischer Form sowie liturgische Anpassungen, die man überall in den Lektionarien antrifft und die sich manchmal in den Bibeltext einschlichen, wie zum Beispiel die Lobpreisungen am Ende des "Vater unser" (vgl. dazu Matthäus 6,13). Darüber hinaus sind hier Harmonisierungen paralleler Schriftstellen in den Evangelien zu nennen, die eigentlich eine gutgemeinte Änderung der Schreiber waren, die den Text falsch verstanden (so wurde in Johannes 19,14 "sechste" manchmal in "dritte" Stunde verändert).

Wir haben schon gesehen, dass der Textkritiker, um aus diesen Varianten den ursprünglichen Text zu rekonstruieren, zu allererst versuchte, die Handschriften in Textstrukturen zu ordnen, uni so zu einer Einteilung in Gruppen zu kommen. Diese wurden dann wieder miteinander verglichen, um sie letztlich auf einen Urtypus zurückzuführen, der dann so weit wie möglich dem ursprünglichen Text entsprach.

Es ist schon deutlich geworden, dass bei diesen Untersuchungen nicht alle Textzeugen und Gruppen von gleichrangiger Bedeutung sind; jede davon wird nach den Kennzeichen äusserer und innerer Richtlinien eingestuft. Äussere Kennzeichen sind das Alter der in einer Handschrift angetroffenen Textstruktur und die geographische Verbreitung derselben (grössere Verbreitung macht die Textstruktur wertvoller). Als innere Kennzeichen gelten die Gewohnheiten der Kopierer und der Autoren. Was die Kopierer betrifft, geht man davon aus, dass diese leicht eine schwierigere Lesart durch eine einfache, eine kürzere durch eine längere, eine stockende durch eine flüssigere Lesart ersetzen würden. Hinsichtlich der Autoren versucht man, sich in ihre Lage zu versetzen und sich vorzustellen, was diese wahrscheinlich geschrieben haben könnten; dabei beachtet man den direkten Zusammenhang (Kontext), die lehrhafte Harmonie und den Hintergrund. Man kann verstehen, dass alle diese Überlegungen nicht zu straff angewandt werden dürfen und dass dabei sehr viel von der Einsicht und der Einstellung des Kritikers abhängt.

Aber ganz allgemein gesehen kann man sichergehen, dass der Kritiker in der Reihenfolge der Wichtigkeit folgende Richtlinien anwenden wird: (1) eher die ältere als die jüngere Lesart, (2) eher die schwierige als die einfache Lesart, (3) eher die kürzere als die längere Lesart, (4) die Lesart, die alle Varianten am besten erklärt, (5) eher die geographisch am meisten verbreitete Lesart, (6) eher die Lesart, die am besten mit dem Stil und Wortgebrauch des Verfassers übereinstimmt, (7) eher die Lesart, aus der kein dogmatisches Vorurteil des Kopierers hervorgeht.

Schlussfolgerung

Zusammenfassend können wir sagen, dass die Glaubwürdigkeit des griechischen Neuen Testaments wirklich ausserordentlich gross ist. Wir wissen nun, dass wir im wesentlichen denselben Text besitzen, wie er von der Urgemeinde (von ägyptischen Bauern, syrischen Kaufleuten und lateinischen Mönchen) gebraucht wurde. Alle Kritik hinsichtlich einer (vermeintlichen) Ungenauigkeit oder sogar einer Manipulation wäre damit zum Schweigen gebracht! Auch die ersten Protestanten, die monumentale Bibelübersetzungen gemacht haben, hatten bereits einen sehr präzisen Text - und wir haben jetzt sogar den Beweis dafür. Die Arbeit am griechischen Text geht aber immer noch eifrig weiter, vor allem wegen der vielen Neuentdeckungen. Diese Studien werden uns sicherlich noch viele interessante Details liefern. Aber der "normale" Bibelleser darf schon jetzt davon überzeugt sein, dass er ein Wunder in Händen hält: das Wunder der Überlieferung des Neuen und Alten Testaments.

Datum: 01.08.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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