Kanonische Bücher und Apokryphen

Wir haben bis jetzt die Überlieferung des Textes sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments verfolgt und gesehen, welch ein wunderbares Buch wir in die Hand bekommen haben. Wir glauben, dass es Gott selber war, der über sein Wort wachte und der uns auf einzigartige Weise (die in der klassischen Literatur ohnegleichen ist) über einen Zeitraum von 3400 Jahren (und vielleicht noch viel länger; siehe Kapitel 2 und 3) sein Wort bewahrt hat. Er gab uns eine Bibel, die bis auf wenige Kleinigkeiten noch genauso aussieht wie in der Zeit, in der sie verfasst wurde. Wie wichtig es ist einzusehen, dass die Bibel ein göttliches Buch ist, das durch die Inspiration Gottes entstanden ist und durch seine Vorsehung überliefert wurde, zeigt sich an den zwei Fragen, die wir jetzt behandeln wollen. Wenn die Bibel ein von Gott inspiriertes Buch ist, müssen wir ja nicht nur auf die Art der Überlieferung achthaben, sondern auch auf die Frage, was die Bibelbücher eigentlich von anderen religiösen, aber nicht von Gott inspirierten Büchern unterscheidet. Mit anderen Worten: Welche Bücher gehören zur Bibel und welche nicht? Wer bestimmt das? Auf Grund welcher Tatsache? Was sagt uns die Geschichte dazu? Wir beantworten diese Frage in zwei Phasen:
(a) Wir wollen in diesem Kapitel zeigen, dass bestimmte Bücher für kanonisch (= zur Bibel gehörend) erklärt wurden, weil sie göttliche Autorität haben.
(b) Wir wollen (in Kapitel 6) zeigen, dass bestimmte Bücher göttliche Autorität haben, weil sie sich als von Gott inspiriert heraus-stellten. Diese drei Ausdrücke muss man auseinanderhalten. Bestimmte Bücher haben nicht deshalb göttliche Autorität, weil sie in der Bibel enthalten sind, sondern wurden vielmehr in die Bibel aufgenommen, weil sie göttliche Autorität haben. Sie sind kanonisch, weil sie autoritativ sind, und nicht umgekehrt.

Was bedeutet "kanonisch"?

Lassen Sie uns erst herausfinden, was kanonisch ist und anschliessend, was die Kennzeichen kanonischer Bücher sind. Das Wort Kanon erreichte uns über die lateinische Vulgata aus dem Griechischen, das es wiederum dem hebräischen Wort qaneh = "Rohr" entliehen hat. Ein Rohr wurde als "Messrohr" (vgl. Hesekiel 40,3) gebraucht, dadurch bekam das Wort die Bedeutung von Massstab, Standard, Regel. In dieser Bedeutung fand das Wort auch im Neu-en Testament Verwendung (u.a. Galater 6,16) und wurde anfänglich auch so von den Kirchenvätern gebraucht. Origenes (184-254) sprach von den Schriften als Kanon im Sinne von "Prinzipien für Glauben und Leben". Erst zur Zeit Athanasius' (296-373) fing man an, das Wort in der gleichen Bedeutung wie heute zu gebrauchen, nämlich als "Liste von Büchern, die göttliche Autorität besitzen". Man muss diese Bedeutungen, obwohl sie nah beieinanderliegen, dennoch voneinander unterscheiden. In der aktiven Bedeutung ist ein Buch deshalb kanonisch, weil es ein autoritativer (d.h. mit Autorität ausgestatteter, massgebender "Massstab" für das Glaubens-leben ist; in der passiven Bedeutung ist ein Buch deshalb kanonisch, weil es dem "Massstab", der bestimmt, ob ein Buch inspiriert und damit autoritativ ist, Genüge tut. Es ist aber erkennbar, dass diese Bedeutungen sehr eng miteinander verbunden sind, denn nur inspirierte Bücher haben göttliche Autorität über Glauben und Leben. Was sind denn nun die genauen Massstäbe, denen Schriften in der Vergangenheit entsprechen mussten, um als "kanonisch" zu gelten und in die Bibel aufgenommen zu werden? Doch nicht schon der, dass ein israelisches Buch (wie Eichhorn 1780 behauptete) sehr alt war? Auf der einen Seite wurden sehr alte Bücher, wie z.B. "Das Buch der Redlichen" (s. Josua 10,13) und "Das Buch von den Kriegen des Herrn" (s. 4. Mose 21,14) nicht in den Kanon aufgenommen. Auf der anderen Seite haben wir schon gezeigt, dass Bücher normalerweise sofort ("im jungen Alter") in den Kanon aufgenommen wurden. Es kann auch nicht sein, dass (wie Hitzig um 1850 behauptete) die "geweihte" hebräische Sprache bestimmte, ob ein Buch kanonisch war oder nicht. Das erkennen wir daran, dass einerseits manche alten Schriften im "geweihten" Hebräisch nicht ohne weiteres von jedermann als kanonisch angesehen wurden und andererseits aramäisch geschriebene Teile zum Kanon der alttestamentlichen Bücher gezählt wurden, nämlich Esra 4,8-6,18; 7,12-26; Jeremia 10,11 und Daniel 2,4b-7,28. Auch die Auffassung, die Übereinstimmung mit der Thora wäre dafür entscheidend, ob ein Buch kanonisch sei (behauptete Wildeboer 1895), ist unzureichend. Natürlich stimmen alle Bücher des Alten Testaments mit der Thora überein, aber auf der einen Seite gibt es viele andere Bücher, die zwar mit ihr übereinstimmen, aber doch nicht kanonisch sind, und auf der anderen Seite verschweigt diese Auffassung, weshalb die Thora selber kanonisch ist.
Alle diese Behauptungen bieten aber leider keinen absoluten Massstab. Dieser Massstab kann nur sein, dass allein die Bücher, die von Gott inspiriert und so mit göttlicher Autorität versehen wurden, kanonisch sind. Weder die Menschen noch die Führer des Juden- oder Christentums haben den Büchern der Bibel offiziell Autorität verliehen - sie konnten nur erkennen, welche Bücher diese Autorität offensichtlich schon besassen. Niemals haben irgendwelche Führer in der Vergangenheit, auf welchem Konzil auch immer, "bestimmt" oder "festgestellt", welche Bücher in den Kanon aufgenommen wer-den müssten und welche nicht. Sie konnten höchstens offiziell fest-stellen, welche Bücher auf Grund ihrer göttlichen Autorität offensichtlich zum Kanon der Bibel gehörten. Nochmals: Kein einziges Buch ist deshalb "massgebend" (kanonisch), weil es irgend-wann einmal von Menschen in den Kanon aufgenommen wurde - das wäre eine Verknüpfung der beiden Aspekte des Begriffs "Kanon" (s. oben). Ein Buch ist nur dann massgebend, wenn es deutlich von Gott mit Autorität versehen ist, das heisst von Gott inspiriert ist. Das einzige, was den Menschen von Gottes Vorsehung überlas-sen wurde, war, solche göttlich autoritativen Bücher als solche zu erkennen. Diesen Prozess der Festlegung, welche Bücher offensichtlich von Gott kamen und welche nicht, wollen wir nun kurz durch die Jahrhunderte verfolgen. Aber als erstes müssen wir sorgfältig die Kriterien aufzeigen und erklären, nach denen ein Buch als kanonisch anerkannt werden konnte.

Datum: 19.07.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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