Der alttestamentliche Kanon

Wir haben bis jetzt die Kriterien und die Notwendigkeit eines Kanons (formelle Liste der inspirierten Bücher) betrachtet; jetzt kommen wir zu der Frage: »Welche Beweise haben wir dafür, dass wir in unserer Bibel tatsächlich den richtigen Kanon haben?«

Anhand des Alten Testaments haben wir schon gesehen (Kapitel 3), dass zur Zeit Nehemias und Maleachis (ca. 400 v. Chr.) der hebräische Kanon mit seinen 24 (wir zählen 39) Büchern schon komplett war. Für die Christen ist das wichtigste Beweismaterial für diesen alttestamentlichen Kanon im Neuen Testament zu finden. Das Neue Testament zitiert fast alle alttestamentlichen Bücher als autoritativ (siehe Kapitel 6); das gilt auch für diejenigen »Ketubirn« (oder »Schriften«: siehe Kapitel 3), von denen manche Leute meinten, dass sie erst viel später in den Kanon aufgenommen wurden. Die einzigen alttestamentlichen Bücher, die nicht im Neuen Testament zitiert werden, sind Richter, Ruth, Chronik, Esther und Hoheslied; wohl aber werden Geschehnisse aus Richter (Hebräer 11,32) und Chronik (2. Chronik 24,20 f.; Matthäus 23,35) als authentisch zitiert, während Jesus Christus sich in Matthäus 9,15 mit deutlichem Hinweis auf das Hohelied als Bräutigam vorstellt. Demgegenüber steht, dass im Neuen Testament manchmal ein Geschehen aus einem apokryphen Buch als autoritativ zitiert wird (siehe 2. Tim. 3,8; Judas Vers 9+ 14), was aber nicht bedeutet, dass das zitierte Werk damit selbst gleich autoritativ sein würde.

Wie wir sahen, bestätigt uns das Neue Testament die Dreiteilung des Alten Testaments in Gesetz, Propheten und Schriften (Lukas 24,44), wobei die beiden letzten Teile aber meistens als »die Propheten« zusammengefasst werden (siehe oben). Der Herr Jesus kritisierte die jüdische Tradition in vielen Hinsichten, hatte aber niemals eine Auseinandersetzung mit den religiösen Führern über den Kanon der hebräischen Bibel (siehe Johannes 10,31-36). Die dreiteilige Gliederung des Alten Testaments kommt zum ersten Mal in dem Vorwort vor, das der griechische Übersetzer (der Enkel des hebräischen Verfassers) des apokryphen Buches Jesus Sirach im Jahre 132 v. Chr. dem Buche zufügte. Er spricht darin einige Male über das Gesetz, die Propheten und die »übrigen Bücher«. Man wusste offensichtlich schon um einen hebräischen Kanon, wie wir, es auch bei Philo, dem gelehrten Juden in Alexandrien zur Zeit Jesu sehen. Er anerkannte die Autorität der heiligen Bücher und betrachtete die apokryphen Bücher als nicht autoritativ; das weist darauf hin, dass diese Bücher von den alexandrinischen Juden nicht wirklich als kanonisch angesehen wurden, obwohl sie in die Septuaginta (die griechische Übersetzung der alexandrinischen Juden; siehe Kap. 2) aufgenommen waren.

Wichtig ist das Zeugnis von Flavius Josephus (ein anderer gelehrter Jude) gegen Ende des ersten Jahrhunderts. Er machte in seinem Werk »Contra Apion« (1,8) deutlich, dass die Juden nur 22 Bücher als göttlich ansahen, und dass die jüdischen Bücher, die seit der Zeit des Königs Artaxerxes (also seit Nehemia) geschrieben wurden, diese Autorität nicht hatten, weil es damals kein exaktes Aufeinanderfolgen von Propheten mehr gab. Er bestätigt also, dass der Kanon chronologisch mit dem Buch Maleachi abgeschlossen wurde; dasselbe bezeugt auch der Talmud. Es ist interessant, dass Josephus von 22 Büchern spricht (wahrscheinlich übereinstimmend mit der Zahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets) und dabei 5 Bücher Mose, 13 prophetische Bücher und 4 Bücher mit Lobpreisungen und Lebensrichtlinien unterscheidet. Wir zählten in Kapitel 3 die 24 Bücher des hebräischen Kanons auf; es ist gut möglich, dass Josephus auf »nur« 22 Bücher kam, weil er Ruth und Klagelieder als Anhang zu Richter resp. Jeremia betrachtete. Mit der Gruppe von vier Büchern hat er offensichtlich die Psalmen, Sprüche, Prediger und Hiob oder Hoheslied gemeint; die übrigen Bücher rechnete er zu den prophetischen Büchern. Seiner Meinung nach ist Daniel also auch ein prophetisches Buch.

Wenn man den Fund eines Fragments vom Buch Daniel unter den Qumranrollen und den Hinweis Jesu auf Daniel als Propheten (Matthäus 24,15) dazu nimmt, dann bleibt nicht viel von der Behauptung mancher Kritiker übrig, Daniel sei nur ein spätes (2. Jhdt. v. Chr.) und nicht-prophetisches Buch. Dieser letzte Punkt ist sehr wichtig, weil die Gruppe der »Schriften« (der dritte Teil des hebräischen Kanons, zu dem auch das Buch Daniel gerechnet wird) manchmal als ein viel späterer und zweifelhafter Anhang zum Kanon betrachtet wird. Wir haben aber gesehen, dass (a) diese Schriften genauso als prophetische Bücher betrachtet wurden (vgl. Lukas 24,27 mit Vers 44 und die Andeutung der Psalmen als »Gesetz« und »Schrift« in Johannes 10,34-36), und ferner (b) bereits sowohl Jesus Sirachs Enkel als auch das Neue Testament und Josephus die »Schriften« als kanonisch betrachteten, und dass (c) Josephus und der Talmud deutlich kundtun, dass mit Maleachi der Kanon beendet wurde (damals gehörten also auch bereits die »Schriften« zum Kanon). Der Talmud lehrt, dass die Propheten bis auf die Zeit Alexanders des Grossen prophezeiten, dass danach aber der Heilige Geist von Israel wich und somit die Bücher des Jesus Sirach und alle anderen aus dieser Zeit nicht kanonisch sind.

Der wichtigste Grund dafür, dass manche trotzdem glauben, dass die »Schriften« zur Zeit Jesu Christi noch nicht komplett und/oder kanonisch waren, sind Berichte von Debatten, die über einige dieser Schriften in der Ortschaft Jamnia um 90 n. Chr. stattfanden. Es wurden Einwände gegen Sprüche, Hoheslied und Esther erhoben, die aber alle widerlegt wurden. Man hat manchmal über ein Konzil von Jamnia gesprochen, auf dem man diese Bücher angeblich offiziell in den hebräischen Kanon aufgenommen habe, aber das ist ein grosses Missverständnis. Erstens war es keineswegs ein Konzil, an dem repräsentative jüdische Führer teilnahmen, sondern nur eine Sitzung von Gelehrten. Und zweitens wurden keine Bücher in den Kanon aufgenommen, sondern man diskutierte lediglich über Bücher, die schon längst zum Kanon gehörten. Ferner wurden keine Bücher aus dem Kanon herausgenommen, die man zuvor aufgenommen hatte. Das Werk der Rabbiner in Jamnia führte nur zur formellen Bestätigung des Kanons, nicht aber zu seiner Aufstellung.

Der älteste christliche Kanon des Alten Testaments wurde von Melito, Bischof von Sardis, aufgestellt (ca. 170 n. Chr.), nach seinen Aussagen und aufgrund sorgfältiger Forschung während einer Reise durch Syrien. Die Liste, die von Eusebius in seiner »Kirchengeschichte« aufgenommen wurde, enthält (wenn wir annehmen, dass Melito die Klagelieder zu Jeremia und Nehemia zu Esra rechnete) alle alttestamentlichen Bücher bis auf Esther (das Buch Esther war offensichtlich in Syrien weniger bekannt). Eine Liste aus derselben Zeit, die in einem Manuskript angeführt wird, das in der Bibliothek des Griechischen Patriarchats in Jerusalem aufbewahrt wird, nennt den ganzen hebräischen Kanon: Darin werden nur die Klagelieder nicht genannt, weil sie wahrscheinlich als zu Jeremia gehörend angesehen wurden. Der grosse Gelehrte Origenes (1. Hälfte 3. Jhdts.) umschreibt den kompletten alttestamentlichen Kanon, nennt dabei aber auch den apokryphen »Brief des Jeremia«. Auch Athanasius gab 367 eine Liste heraus, in der er das Buch Esther (das er apokryph nennt) fehlen lässt und Baruch (inkl. »Brief des Jeremia«) hinzufügt. Der Iateinische Gelehrte Hieronymus (ca. 400) gibt uns in seinem Vorwort zum Kommentar zu Daniel genau denselben Kanon, wie wir ihn kennen.

Datum: 14.07.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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