Umstrittene Bücher

Wir haben jetzt gesehen, dass hinsichtlich des Alten wie auch des Neuen Testaments die meisten Bücher sofort, andere aber mit einigem Zögern als kanonisch angesehen wurden. Die Bücher, die von allen sofort anerkannt wurden, nennt man Homologoumena (»einstimmig anerkannt«); die Bücher, die sofort von allen verworfen wurden, nennt man Pseudepigraphen (»mit falscher Angabe, unecht«). Die umstrittenen Bücher nennt man Antilegomena (»widersprochen, umstritten«), und die Bücher, die nur von einzelnen anerkannt wurden, nennt man Apokryphen (buchst. »verborgen, geheimnisvoll«, später: »nicht-kanonisch, apokryph«).

Wir wollen uns nun kurz mit den letzten drei Gruppen befassen und beginnen mit den Antilegomena, also den biblischen Büchern, die kurze Zeit von einigen angefochten wurden. Das will aber nicht heissen, dass ihr Platz im Kanon weniger sicher ist als der der anderen Bücher; im Gegenteil, wir haben versucht zu zeigen, dass alle Bücher der Bibel ursprünglich sofort als kanonisch anerkannt wurden, auf jeden Fall aber von denen, an die sie zunächst gerichtet waren. In allen Fällen entstanden erst viel später Zweifel am kanonischen Charakter mancher Bücher. Im Judentum geschah dies durch das Aufkommen bestimmter rabbinischer Schulen; im Christentum ent­standen Zweifel, wenn Bücher, die in anderen Teilen der Welt verfasst und in Umlauf gebracht waren, anderswo nicht sofort als authentisch anerkannt worden waren. Es dreht sich im ganzen um fünf alt- und sieben neutestamentliche Bücher:

(a) Esther wurde als ein weltliches Buch angesehen, vor allem weil darin der Name Gottes nicht vorkommt. Ein möglicher Grund dafür ist, dass für die persischen Juden (die sich geweigert hatten, nach Palästina zurückzukehren) Gottes Bundesverheissung nicht galt. Andererseits wird in Kap. 4,14 aber geradewegs auf Gottes Vorsehung und Hilfe hingedeutet; auch wird ein religiöses Fasten abgehalten, und Esther zeigt, dass sie einen festen Glauben hat (4,16). Tatsächlich ist gerade dieses Buch ein mächtiges Zeugnis von Gottes Erlösungsplan mit seinem Volk - eine Erlösung, die noch immer den Grund für das jüdische Purimfest legt (Esther 9,26-28).

(b) Die Sprüche Salomos wurden von einigen angefochten, weil darin widersprüchliche Aussagen vorkämen (siehe 26,4 + 5); eine Behauptung, die sehr einfach zu widerlegen ist.

(c) Das Buch Prediger wurde als zu pessimistisch angesehen (siehe z.B. 1,1+9+18), weil man den Standpunkt des Verfassers nicht richtig verstand. Dieser trachtete danach, Erfüllung des Lebens in den Dingen »unter der Sonne« zu finden, was ihm natürlich nicht gelang (siehe 7,23-29), bis er schliesslich lernte, die Dinge von Gottes Warte aus zu sehen (11,9; 12,1) und somit zu dem »Schlusswort« kam: »Fürchte Gott und halte seine Gebote« (12,13).

(d) Das Hohelied betrachteten manche als zu sinnlich. Dabei musste man wohl die Augen verschlossen haben für die Reinheit des Buches, die Vortrefflichkeit der ehelichen Liebe, die darin gepriesen wird und die geistliche Anwendung des Buches, die schon von Anfang an darin erkannt wurde.

(e) Hesekiel fanden manche im Widerspruch mit den mosaischen Gesetzen, aber auch das stellte sich als Interpretationssache heraus und konnte schliesslich richtiggestellt werden.

(f) Der Hebräerbrief wurde eine Zeitlang wegen der Anonymität des Verfassers angefochten, und weil manche Ketzer diesem Brief anscheinend Irrlehren entnahmen. Schliesslich sah man ein, wie falsch das war und wurde davon überzeugt, dass Paulus wahrscheinlich der Verfasser ist.

(g) Der Jakobusbrief wurde im Westen so lange nur zögernd aufgenommen, bis deutlich wurde, dass der Verfasser in der Tat der bekannte apostolische Gemeindevorsteher aus Jerusalem war und der Inhalt seines Briefes (»Rechtfertigung durch Werke?«) nicht im Widerspruch mit der Lehre des Paulus stand - was auch von späteren Kirchenvätern betont wurde, obwohl sogar Luther noch Mühe mit diesem Buch hatte.

(h) Der 2. Petrusbrief war das am meisten angefochtene Buch, hauptsächlich wegen des stilistischen Unterschieds zum ersten Petrusbrief. Daher entstanden Zweifel an der Verfasserschaft. Man meinte sogar eine Zeitlang, dass das Buch eine Fälschung aus dem zweiten Jahrhundert sei, was aber dadurch widerlegt wurde, dass Klemens von Rom (1. Jhdt.) aus diesem Buch zitierte, dass literarische Übereinstimmungen mit den Qumranschriften bestehen (siehe Kapitel 3) und dass der zweite Petrusbrief schon von den koptischen Christen des dritten Jahrhunderts hochgeschätzt wurde, wie es die Bodmer-Handschrift P72 (siehe Kapitel 4) zeigt. Wir können hier nicht ausführlich auf die Verfasserschaft eingehen, aber wir glauben in Übereinstimmung mit einer Autoritätsperson wie Donald Guthrie (Professor am London Bible College) daran, dass es nur ungenügende Gründe dafür gibt, die Verfasserschaft des Petrus an­zuzweifeln. Der stilistische Unterschied zu einem literarischen Meisterwerk, wie es der erste Petrusbrief ist, liegt vielleicht in der Tatsache begründet, dass Petrus bei dem zweiten Brief mit Silvanus zusammengearbeitet hat (siehe 5,12).

(i,j) Die Briefe 2. und 3. Johannes wurden nicht überall sofort anerkannt, weil sie etwas anonym schienen und anfänglich nur begrenzt im Umlauf waren. Der Stil und die Botschaft dieser beiden Briefe stimmen aber deutlich mit 1. Johannes überein, und niemand ausser dem grossen Apostel Johannes würde es im ersten Jahrhundert gewagt haben, sich den GIäubigen in Kleinasien mit dem »an­massenden« Namen »der Älteste« vorzustellen.

(k) der Judasbrief war wegen seiner Hinweise auf apokryphe oder pseudepigraphe Werke umstritten; aber die meisten frühen Kirchenväter verstanden offensichtlich, dass wohl die zitierte Information, nicht aber die Werke selber, denen diese Information entnommen war, als autoritativ präsentiert wurde und dass die Hinweise sich nicht wesentlich von Paulus' ausserkanonischen Informationen unterschieden (z.B. 2. Tim. 3,8).

(l) Das Buch der Offenbarung war eines der ersten Bücher, die als von Gott inspiriert anerkannt wurden (Hermas, Papias, Irenäus; 2. Jhdt.), andererseits war es aber auch das Buch, über das am längsten (bis weit ins vierte Jhdt.) diskutiert wurde, vor allem wegen allerlei Irrlehren, die bestimmte Sekten mit diesem Buch verbanden. Nachdem diese aber widerlegt werden konnten, war der Platz im Kanon gesichert.

Die von allen abgelehnten Bücher

Nun kommen wir zu den Pseudepigraphen, einer Sammlung oft unechter, absurder religiöser Schriften, die unter den Juden bzw. den Christen eine bestimmte Verbreitung fanden. Die alttestamentlichen Pseudepigraphen entstanden zwischen ca. 200 v. Chr. und 200 n. Chr., und die des Neuen Testaments im 2. und 3. Jhdt. nach Christus. Manche sind dogmatisch ungefährlich (wie Psalm 151), andere Pseudepigraphen jedoch enthalten religiöse Phantasien oder Überlieferungen (möglicherweise auf einem historischen Kern beruhend), dazu oft fragwürdige Imitationen der prophetischen Bücher und unnütze Spekulationen über unbekannte Themen (wie z.B. die Kindheit Jesu Christi); vor allem aber allerlei Irrlehren, die nach Aussagen der kanonischen Bücher als verwerflich und gefährlich angesehen werden müssen. Kein einziger geistlicher Führer hat jemals auch nur eines dieser Bücher als kanonisch angesehen. Zweifellos kamen in solchen Büchern auch wahre Dinge vor, daher kommt es auch, dass die Bibelautoren manchmal indirekt darauf hingewiesen haben. So scheint es (nach Origenes), dass Judas in seinem Brief auf das Buch »Die Himmelfahrt Moses« (Vers 9) und das Buch 1. Henoch (Vers 14 f.) hinweist und Paulus in 2. Timotheus 3,8 auf das eine oder andere Buch von Jannes und Jambres (oder Mambres).

Die Standardliste der alttestamentlichen Pseudepigraphen umfasst 17 Bücher; vier legendäre (u.a. das Buch von Adam und Eva), sieben apokalyptische (Apokalypse = Offenbarung, u.a. die von Judas zitierten Bücher), vier unterweisende Bücher, ein historisches und ein poetisches Buch: die Psalmen Salomos, denen wir auch noch Psalm 151 (der in der Septuaginta vorkommt) zufügen können. Diese Liste ist aber noch lange nicht vollständig: Die Qumranrollen haben noch verschiedene neue Pseudepigraphen ans Licht gebracht.

Die Menge der neutestamentlichen Pseudepigraphen ist noch viel grösser: Photius nannte im 9. Jahrhundert bereits 280, und seitdem sind noch andere bekannt geworden. Die Sammlung enthält Dut­zende »Evangelien« (einige bekannte sind die sogenannten des Thomas, des Petrus, der Ägypter, des Nikodemus, Josephs des Zimmermanns, der Geburt der Maria und der Kindheit Jesu), dazu eine Reihe Bücher, »Apostelgeschichten« genannt (von allerlei einzelnen Aposteln), eine Menge Briefe (unter denen sogar, wie man behauptete, einer war, den Christus an den König von Mesopotamien geschrieben haben soll, und 6 Briefe, angeblich von Paulus an Seneca), eine Reihe Bücher, die »Offenbarung« genannt wurden (u.a. die des Paulus, des Thomas, des Stephanus) und verschiedene andere.

Datum: 12.07.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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