Genauso wie man in der Kirchengeschichte das Wunder der Person Christi zu erklären versuchte, indem man seine Menschheit oder seine Gottheit leugnete, ging man auch mit der Bibel vor. Entweder man zerredete das menschliche Element in der Schrift, oder man griff ihre Inspiration an. Im ersten Falle kam man zu der Lehre, die »mechanische Inspiration« genannt wird, hierbei soll die Persönlichkeit der Bibelverfasser ganz ausgeschaltet sein. Das hiesse, dass diese nichts anderes als Sekretäre gewesen sind, die das göttliche Diktat blindlings niederschrieben. Schon eine oberflächliche Betrachtung der Bibel zeigt sofort, dass diese Auffassung unsinnig und falsch sein muss. Man erkennt in jedem Buch der Bibel den Stil, die Gemütsverfassung (siehe z.B. Jeremia 18,19-23; Galater 3,1-5; 4,12-20; 5,12), die zeitlichen Umstände und die Umgebung des Verfassers. Bei einer mechanischen Inspiration müssten alle Bücher der Bibel vollkommen gleichtönend sein, was sie aber keineswegs sind. Wohl finden wir auf dem Gebiet des Spiritismus (also des Okkulten und Dämonischen), solche »automatischen Diktate«, aber für die Bibel gilt: »Und die Geister der Propheten sind den Propheten untertan« (1. Korinther 14,32); d.h. die Prophezeiungen geschehen nicht ausserhalb des Willens und der Persönlichkeit des Propheten. Eine spiritistische Inspiration ist Gottes und des Menschen unwürdig. Gott schuf den Menschen in seinem Bilde und macht darum Gebrauch von dessen Fähigkeiten (vgl. Lukas 1,1-4) und seiner Persönlichkeit; aber die Inspiration garantiert dabei, dass der Mensch die Worte niederschreibt, von denen Gott (rechnend mit dem »Instrument«, das er »bespielt«) will, dass sie aufgeschrieben werden. Dabei wird menschlichem Versagen vorgebeugt. Gott will kein »Medium« als sein Werkzeug, sondern er will den ganzen »Menschen«. Nun gibt es aber auch andere, die das Wunder des vollkommen Menschlichen und vollkommen Göttlichen der Bibel nicht akzeptieren können und dem entgegenhalten: Wenn es menschliche Elemente in der Bibel gibt, müssen sie dann auch notwendigerweise, nach normalen menschlichen Kriterien, unvollkommen sein. Das hiesse dann, dass ein so altes Buch, wie es die Bibel ist, historisch und wissenschaftlich unglaubwürdig oder sogar völlig unwichtig wäre, und dass man erwarten dürfte, Mythen, Legenden, fromme übertreibungen und sachliche Widersprüche darin zu finden. Das bringt uns zur »Bibelkritik«, die wir in Kapitel 7 und 8 noch ausführlicher behandeln wollen. Für den Augenblick können wir diese abweichenden Theorien am besten überblicken, wenn wir davon ausgehen, dass nach unserer festen Glaubensüberzeugung die Bibel Gottes Wort ist; das bedeutet, dass jedes Wort der Bibel (d.h. der Urtext) zu diesem Wort Gottes gehört. Demgegenüber steht nun der Modernismus (19. Jhdt.) mit seiner Auffassung, dass die Bibel nur Gottes Wort enthält, und ferner die Neo-Orthodoxie (20. Jhdt.) mit ihrer Auffassung, dass die Bibel unter bestimmten Umständen zum Wort Gottes wird. (a) Der Modernismus. Er behauptet, bestimmte Teile der Bibel hätten göttliche Autorität, aber sehr viele Teile seien menschlich und fehlerhaft (d.h. historisch und wissenschaftlich unglaubwürdig und überholt). Die Teile aber, die inspiriert sind, seien durch eine Art göttliche »Erleuchtung« (nach Auffassung mancher Leute sogar mehr eine Art religiöser Intuition) niedergeschrieben worden. Die-se Erleuchtung soll verschiedene Stufen gekannt haben, so dass auch die inspirierten Teile mehr oder weniger mit religiösen Irrtümern und primitiven Weltanschauungen behaftet seien. (b) Neo-Orthodoxie. Nach dieser Auffassung dürfe man keinen Unterschied zwischen inspirierten und nicht-inspirierten Teilen der Bibel machen. Man dürfe auch nicht sagen, dass die Bibel an sich eine Offenbarung Gottes sei, sondern Gott offenbare sich uns durch die Bibel in einer persönlichen Begegnung mit den Menschen. Trotz dieses fehlbaren, unvollkommenen Buches erkenne der Mensch im GIaubenserleben aber doch die Stimme Gottes. Die Bibel sei nicht Gottes Offenbarung, sondern nur ein Bericht früherer persönlicher Offenbarungen Gottes an Menschen; die Offenbarung zwar sei vollkommen, doch der Bericht nur stümperhaft. Aber Gott könne dem Menschen, der ihm im Glauben begegnet, durch diese Stümperhaftigkeit hindurch begegnen, und in solch einem Moment könne die Bibel für den Gläubigen zum Gotteswort werden. In der extremeren Form dieses Denkens (der Entmythologisierungstheologie) werden alle objektiven, historischen Aussagen der Bibel als an sich nicht zur Sache gehörend abgewiesen; das sollte nur die mythische Form sein, die man abtragen müsse, um an den wahren religiösen (»existentiellen«) Kern der biblischen Botschaft heranzukommen. Die Bibel könne also für uns zum Gotteswort werden, wenn sie auf die richtige Weise entmythologisiert und dadurch der Kern der absoluten Liebe aufgedeckt werde, wie dieser im Mythos der selbstlosen Liebe Gottes in Christus verfasst sei. Die Behandlung und Widerlegung dieser Anschauungen muss bis später warten, aber wir wollen zeigen, dass (1) diese Ansichten in völligem Widerspruch zu den ausdrücklichen Aussagen stehen, die die Bibel über sich selbst macht, dass sie (2) zu grosser Inkonsequenz führen und dass sie (3) letztlich auf einem falschen wissenschaftlichen Weltbild fussen, wie auch auf philosophischen Ausgangspunkten, die abgelehnt werden müssen. Wir wollen in diesem Kapitel einigen Einwänden unsere Aufmerksamkeit schenken, die die Anhänger dieser alternativen Auffassungen gegen die Lehre der oben beschriebenen Inspiration angeführt haben.
Datum: 01.07.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel