Abweichende Inspirationstheorien

Aus dem Obenstehenden erkennt der Leser, dass wir die Bibel als das unfehlbare, autoritative, völlig inspirierte Wort Gottes akzep­tieren. Dies war auch der allgemeine Standpunkt der christlichen Kirche während mehr als 18 Jahrhunderten. Es entstanden zwar öf­ter Probleme, wenn man sich vorzustellen versuchte, wie die Bibel einerseits wörtlich von Gott inspiriert sein kann und andererseits doch eindeutig von menschlichen Autoren mit unterschiedlichem Stil und Wortschatz zusammengestellt wurde; aber letztlich ist das ja eine Frage, die wir nie vollständig beantworten können, weil wir als Menschen das Wirken des Geistes Gottes nicht begreifen. Ähn­lich verhält es sich mit der Beteiligung des Geistes Gottes bei der Wiedergeburt: »Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sau-sen wohl; aber du weisst nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist« (Johannes 3,8). Das Wort, das hier für »Wind« gebraucht wird, ist dasselbe wie das, was auch für »Geist« verwendet wird. Die Stelle erinnert uns an »gottgehaucht« (2. Timotheus 3,16) und an »von dem heiligen Geist getrieben« (2. Petrus 1,21). Die Frage des Nikodemus nach dem »Wie« der Wiedergeburt ist darum genauso töricht, wie die nach dem »Wie« der Auferstehung der Toten (1. Korinther 15,35 + 36), die ja auch ein unerforschliches Werk des Geistes Gottes ist (Römer 8,11), oder die Frage nach dem »Wie« der Inspiration... Das heisst natürlich nicht, dass wir nicht sorgfältig überprüfen dür­fen und müssen, was uns die Bibel über ihre Inspiration mitteilt. Dabei müssen wir ungekürzt an dem festhalten, was die Schrift uns sowohl über ihre allumfassende, wörtliche Inspiration als auch über »das menschliche Element« lehrt, das in Stil, Wortgebrauch und Persönlichkeit der Bibelverfasser zutage tritt. Hieran erkennen wir ja gerade das Wunder der Bibel. Sie ist ein total menschliches Buch und gleichzeitig ein total göttliches, unfehlbares Buch! Das Wun­der des geschriebenen Wortes Gottes ist vergleichbar mit Jesus Chri­stus, dem fleischgewordenen Gotteswort (Johannes 1,1-14), der zugleich vollkommener Gott und vollkommener Mensch war und ist. Der Heilige Geist, der über Maria kam, um »das Heilige«, den Sohn Gottes, aus ihr zu erwecken (Lukas 1,35), war derselbe Geist, der einzelne Menschen dazu trieb, göttliche Prophetie hervorzubrin­gen (2. Petrus 1,21).

Genauso wie man in der Kirchengeschichte das Wunder der Person Christi zu erklären versuchte, indem man seine Menschheit oder seine Gottheit leugnete, ging man auch mit der Bibel vor. Entweder man zerredete das menschliche Element in der Schrift, oder man griff ihre Inspiration an. Im ersten Falle kam man zu der Lehre, die »mechanische Inspiration« genannt wird, hierbei soll die Per­sönlichkeit der Bibelverfasser ganz ausgeschaltet sein. Das hiesse, dass diese nichts anderes als Sekretäre gewesen sind, die das göttli­che Diktat blindlings niederschrieben. Schon eine oberflächliche Be­trachtung der Bibel zeigt sofort, dass diese Auffassung unsinnig und falsch sein muss. Man erkennt in jedem Buch der Bibel den Stil, die Gemütsverfassung (siehe z.B. Jeremia 18,19-23; Galater 3,1-5; 4,12-20; 5,12), die zeitlichen Umstände und die Umgebung des Ver­fassers. Bei einer mechanischen Inspiration müssten alle Bücher der Bibel vollkommen gleichtönend sein, was sie aber keineswegs sind. Wohl finden wir auf dem Gebiet des Spiritismus (also des Okkul­ten und Dämonischen), solche »automatischen Diktate«, aber für die Bibel gilt: »Und die Geister der Propheten sind den Propheten untertan« (1. Korinther 14,32); d.h. die Prophezeiungen geschehen nicht ausserhalb des Willens und der Persönlichkeit des Propheten. Eine spiritistische Inspiration ist Gottes und des Menschen unwür­dig. Gott schuf den Menschen in seinem Bilde und macht darum Gebrauch von dessen Fähigkeiten (vgl. Lukas 1,1-4) und seiner Per­sönlichkeit; aber die Inspiration garantiert dabei, dass der Mensch die Worte niederschreibt, von denen Gott (rechnend mit dem »In­strument«, das er »bespielt«) will, dass sie aufgeschrieben werden. Dabei wird menschlichem Versagen vorgebeugt. Gott will kein »Me­dium« als sein Werkzeug, sondern er will den ganzen »Menschen«. Nun gibt es aber auch andere, die das Wunder des vollkommen Menschlichen und vollkommen Göttlichen der Bibel nicht akzep­tieren können und dem entgegenhalten: Wenn es menschliche Ele­mente in der Bibel gibt, müssen sie dann auch notwendigerweise, nach normalen menschlichen Kriterien, unvollkommen sein. Das hiesse dann, dass ein so altes Buch, wie es die Bibel ist, historisch und wissenschaftlich unglaubwürdig oder sogar völlig unwichtig wä­re, und dass man erwarten dürfte, Mythen, Legenden, fromme über­treibungen und sachliche Widersprüche darin zu finden. Das bringt uns zur »Bibelkritik«, die wir in Kapitel 7 und 8 noch ausführli­cher behandeln wollen.

Für den Augenblick können wir diese abweichenden Theorien am besten überblicken, wenn wir davon ausgehen, dass nach unserer festen Glaubensüberzeugung die Bibel Gottes Wort ist; das bedeu­tet, dass jedes Wort der Bibel (d.h. der Urtext) zu diesem Wort Got­tes gehört. Demgegenüber steht nun der Modernismus (19. Jhdt.) mit seiner Auffassung, dass die Bibel nur Gottes Wort enthält, und ferner die Neo-Orthodoxie (20. Jhdt.) mit ihrer Auffassung, dass die Bibel unter bestimmten Umständen zum Wort Gottes wird.

(a) Der Modernismus. Er behauptet, bestimmte Teile der Bibel hät­ten göttliche Autorität, aber sehr viele Teile seien menschlich und fehlerhaft (d.h. historisch und wissenschaftlich unglaubwürdig und überholt). Die Teile aber, die inspiriert sind, seien durch eine Art göttliche »Erleuchtung« (nach Auffassung mancher Leute sogar mehr eine Art religiöser Intuition) niedergeschrieben worden. Die-se Erleuchtung soll verschiedene Stufen gekannt haben, so dass auch die inspirierten Teile mehr oder weniger mit religiösen Irrtümern und primitiven Weltanschauungen behaftet seien.

(b) Neo-Orthodoxie. Nach dieser Auffassung dürfe man keinen Un­terschied zwischen inspirierten und nicht-inspirierten Teilen der Bibel machen. Man dürfe auch nicht sagen, dass die Bibel an sich eine Offenbarung Gottes sei, sondern Gott offenbare sich uns durch die Bibel in einer persönlichen Begegnung mit den Menschen. Trotz die­ses fehlbaren, unvollkommenen Buches erkenne der Mensch im GIaubenserleben aber doch die Stimme Gottes. Die Bibel sei nicht Gottes Offenbarung, sondern nur ein Bericht früherer persönlicher Offenbarungen Gottes an Menschen; die Offenbarung zwar sei vollkommen, doch der Bericht nur stümperhaft. Aber Gott könne dem Menschen, der ihm im Glauben begegnet, durch diese Stümperhaf­tigkeit hindurch begegnen, und in solch einem Moment könne die Bibel für den Gläubigen zum Gotteswort werden. In der extreme­ren Form dieses Denkens (der Entmythologisierungstheologie) werden alle objektiven, historischen Aussagen der Bibel als an sich nicht zur Sache gehörend abgewiesen; das sollte nur die mythische Form sein, die man abtragen müsse, um an den wahren religiösen (»exi­stentiellen«) Kern der biblischen Botschaft heranzukommen. Die Bibel könne also für uns zum Gotteswort werden, wenn sie auf die richtige Weise entmythologisiert und dadurch der Kern der absolu­ten Liebe aufgedeckt werde, wie dieser im Mythos der selbstlosen Liebe Gottes in Christus verfasst sei. Die Behandlung und Widerle­gung dieser Anschauungen muss bis später warten, aber wir wollen zeigen, dass (1) diese Ansichten in völligem Widerspruch zu den aus­drücklichen Aussagen stehen, die die Bibel über sich selbst macht, dass sie (2) zu grosser Inkonsequenz führen und dass sie (3) letztlich auf einem falschen wissenschaftlichen Weltbild fussen, wie auch auf philosophischen Ausgangspunkten, die abgelehnt werden müssen. Wir wollen in diesem Kapitel einigen Einwänden unsere Aufmerk­samkeit schenken, die die Anhänger dieser alternativen Auffassun­gen gegen die Lehre der oben beschriebenen Inspiration angeführt haben.

Datum: 01.07.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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