Das Problem des »historischen Jesus«

Neben dem Problem der Entstehungsgeschichte der Bücher des Neuen Testaments unterscheiden wir in der neutestamentlichen Kritik das Problem der Rekonstruktion der ältesten christlichen Geschichte, nämlich der von Christus und der ersten Christengemeinde. Schon bald kamen die Kritiker zu der Auffassung, dass die Evangelien uns ein verdrehtes Bild des historischen Jesus vermitteln. Unter dem starken Einfluss von Reimarus' Rationalismus und Gablers Mythos-Begriff war es hauptsächlich

D. F. Strauss (1836), der in seinem aufsehenerregenden Buch »Das Leben Jesu« behauptete, dass man das Neue Testament auf mythische Weise lesen müsse. Die Evangelien (die erst nach Christi Tod entstanden) seien nur eine Wiedergabe des mythischen Glaubens, mit dem die Jünger Jesus »umwoben« hätten, vor allem, als sie anfingen, ihn als die »Erfüllung der Prophetien des Alten Testaments« zu betrachten. Strauss erklärte, dass die »Idee«, die in diesem Mythos verborgen sei, ihren Wert nur darin finde, dass die Menschheit sich bewusst werden dürfe, ein »fleischgewordener Gott« zu sein.

Strauss gab damit den Anstoss zu einer ganz neuen Gedankenentwicklung, wogegen Baur verkündete, dass das Johannesevangelium völlig unhistorisch sei und nur die »Idee« des Christus beschreibe. Die Kritiker konnten also nur hoffen, in den Evangelien etwas von dem historischen Jesus wiederzufinden. Die aufkommende (oben beschriebene) literarische Kritik erbrachte einen weiteren Anstoss für die historische Kritik, und nun konnte W. Wrede (1901), anders als Strauss, sogar mit der Auffassung aufwarten, Jesus habe sich selbst gar nicht als Messias angesehen. Die Messias-Idee sei eine Erfindung der frühen christlichen Gemeinde gewesen, und darum hätte Markus ein Evangelium schreiben müssen, in welchem »erklärt« wurde, wie Jesus im Nachhinein Messias sein konnte, ohne dass er selbst das jemals gepredigt hatte. Dies sollte dann »erklärt« werden, indem man sagte, Jesus habe sich selber wohl als Messias gesehen, aber anderen verboten, das weiterzusagen (vgl. Markus 1,34 + 44; 3,12; 5,43; 7,36; 8,26+ 30; 9,9). Ebenso behauptete auch Wellhausen (1905), dass Jesus einfach ein jüdischer Lehrer war, der sich wohl selbst mit »Menschensohn« bezeichnete, aber in der einfachen Bedeutung: »Ich, der Mensch.«

In der Zeit um die Jahrhundertwende kam, wie wir schon sahen, auch das religiös-historische Studium in Gang, das Parallelen in der Kultur und der Religion der Griechen und Römer (P. Wendland, 1907), der Perser und Ägypter (R. Reitzenstein, 1921) suchte. W. Bousset (1906) fing an, das Buch der Offenbarung religiös-historisch zu erklären, und andere versuchten, Taufe und Abendmahl und die Struktur der frühchristlichen Gemeinde im Lichte heidnischer Riten auszulegen (siehe C. Clemen, 1924). Aufgrund solcher Studien versuchte man nun, das Leben Jesu und der ersten Gemeinde zu rekonstruieren. So wollte die »konsequent-eschatologische Schule« (J. Weiss, 1892; A. Schweizer, 1906) die »Figur des Jesus« ganz aus der jüdischen Apokalypse (visionäre Zukunftserwartung) »erklären«. Die Vorhersagen Jesu sollten sich nicht erfüllt haben, und das hätte für ihn das Kreuz und für die junge Gemeinde die Frustration des Nichtwiederkommens Jesu zur Folge gehabt. Auf ähnliche Art und Weise »rekonstruiert« Bousset (1913) das allmähliche Wachstum der Lehre um Jesus in den ersten Christengemeinden. Demnach soll die palästinensische Urgemeinde damit angefangen haben, Jesus als »Sohn des Menschen« zu bezeugen, ein Begriff aus der jüdischen Apokalypse. Anschliessend sollte dann die griechisch-heidnische Gemeinde damit angefangen haben, Jesus zum ersten Mal als Herrn (Kyrios), der ihr vorangegangen war, zu verehren, so wie man es vormals bei den heidnischen Kultgötzen gewöhnt war. Paulus sollte beides zu einer übernatürlichen Erlösungslehre verarbeitet haben, deren Mittelpunkt Jesus ist, während Johannes unter griechischem Einfluss das Christentum zu einer intensiv-mystischen Lehre erhoben hätte. In dieser jüdisch-heidnischen Vermischung sollte der Urkern nichts anderes gewesen sein als eine einfache Predigt Jesu über den gnädigen Gott, der Sünden vergibt. So ist von dem eigentlichen Leben und Wort Christi fast nichts mehr übriggeblieben. Der »historische Jesus« ist nicht oder kaum mehr zu rekonstruieren, so dass Kritiker sich im Prinzip eigentlich nur noch mit der Frage zu beschäftigen hatten, wie die Urgemeinde Christus verkündigte (diese Verkündigung sei das Kerygma). Im 20. Jahrhundert versuchte man dabei vor allem, auch eine Verbindung zu Qumran und den Essenern (nannten wir in Kapitel 3) herzustellen (unter anderem A. Dupont-Sommer, 1961) und noch mehr mit einem angenommenen frühen jüdischen Gnostizismus (einer mystischen Religionsphilosophie), u.a. von E. Käsemann und R. Bultmann. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich vor allem auf Johannes, der ihrer Meinung nach von dem Mythos des niedersteigenden »Offenbarers« Gebrauch machte, der durch sein Herniederkommen und Aufsteigen die erlösende Kenntnis (Gnosis) zu den Menschen gebracht habe. Andere (C. H. Dodd, 1946) sehen mehr Einflüsse von Platos Ideenlehre, aber alle stimmen darin überein, dass das Evangelium von Johannes kein historischer Bericht über das Leben Jesu sei oder sein will.

Die Schlussfolgerung aus diesem kurzen Überblick bringt uns zu denselben Erwiderungen wie im vorigen Abschnitt, sind es doch dieselben Theologen (vor allem Bultmann), die von dem historischen Jesus nichts übrigliessen und auch die formhistorische Methode propagierten. Nun verstehen wir die Verbindung: Die Evangelien geben uns, nach der Auffassung dieser Theologen, nicht den historischen Jesus wieder, sondern den mythologischen, wie ihn die Urgemeinde verkündigt hat!

Darum wären die Evangelien von neuem interessant, weil man daraus nicht etwa einiges über die Geschichte von Jesus erfahren könnte (das ginge nicht mehr), sondern über die Geschichte der Urgemeinde. Die verschiedenen literarischen »Formen« hätten jede für sich ihren eigenen »Sitz im Leben« (Lebenssituation), in Umständen und Bedürfnissen der Urgemeinde. Die »Formgeschichte« sieht es als ihre Aufgabe an, diese literarischen Formen herauszufinden und ihren »Sitz im Leben« zu bestimmen. Es ist jetzt unsere Aufgabe, diese Methode und die damit verbundene historische Kritik kritisch unter die Lupe zu nehmen (wenn wir es hier auch nur kurz anreissen können).

Die Entstehung der formgeschichtlichen Schule

Unter Berücksichtigung des oben Geschriebenen fällt es auf, dass es vier wichtige Ursachen gab, die (kurz nach dem ersten Weltkrieg) zur Entstehung der formhistorischen Methode führten:

1. Hauptsächlich aufgrund der Arbeit, die J. Wellhausen und H. Gunkel über das Alte Testament geschrieben haben, entstand der Wunsch, auch in den Evangelien (und später auch in der Apostelgeschichte) verschiedene literarische Formen zu unterscheiden und diese in ihrer ursprünglichen Situation (nach ihrem »Sitz im Leben«) zu analysieren, wobei die religiös historische Methode den Hinter­grund für das Gemeindeleben verschaffen musste. Diese spekulative Arbeit ging also von Anfang an von der unbewiesenen Tatsache aus, dass die Glaubensüberzeugung der ersten Gemeinden sich nicht so sehr auf die historischen Tatsachen des Lebens und Wirkens Jesu Christi gründeten als auf ihre eigenen Bedürfnisse und selbstge­machten Vorstellungen.

2. Eng damit verbunden war eine Unzufriedenheit über Ergebnisse der Quellenscheidungstheorie. Man kann unterschiedlicher Meinung darüber sein, wie plausibel die Auffassung ist, dass sich die synoptischen Evangelien hauptsächlich auf zwei Quellen stützen (Markus oder Urmarkus und Q), doch damit war für die Formkritiker die Frage, wie diese Quellen selber entstanden waren, noch lange nicht beantwortet! Sie wollten bis hinter diese Quellen vorstossen und versuchten, die Frage zu beantworten, wie sich die Überlieferung in den Jahrzehnten zwischen Jesu Sterben und der Entstehung der ersten Quellen entwickelt haben könnte. Obwohl diese Forschung als »wissenschaftlich« präsentiert wurde, konnte sie aber wegen des Fehlens objektiver Kriterien und objektiv-historischer Informationen über diese Jahrzehnte praktisch nur aus ihrer Phantasie schöpfen (siehe unten).

3. Der dritte Beweggrund war die historische Kritik an den Quellen, vor allem an Markus. Der Weg dazu wurde von W. Wrede geebnet mit seiner Theorie des »Messiasgeheimnisses« in Markus (siehe oben). Wellhausen (1903) schloss sich dieser Theorie an und meinte, dass die ursprüngliche Überlieferung in Markus durch redaktionelle Hinzufügungen, die den eigenen Auffassungen der Urgemeinde entsprungen wären, nur verdeckt erkennbar sei. Diese Ansichten hatten einen enormen Einfluss auf formhistorische Pioniere, wie K. L. Schmidt und R. Bultmann, ohne dass diese den antichristlichen Charakter des rationalistischen Vorurteils, dem ihre Ansichten entsprachen, anerkennen wollten.

4. Im Gegenteil, das »moderne wissenschaftliche Weltbild« (was immer das sein mag), das auch von vielen modernen Wissenschaftlern verworfen wird, hielt die ersten Formkritiker dazu an, die Evangelien zu »entmythologisieren«, das heisst, die mythologischen Elemente des 1. Jahrhunderts zu entfernen, die der Prüfung der »modernen Wissenschaft« nicht standhalten können, um damit den wesentlichen Kern des Evangeliums, der in den literarischen »Formen« (z.B. Wundergeschichten) verborgen sein soll, herauszuschälen. Die Formkritiker sahen ihre Aufgabe also folgendermassen: (a) das Unterscheiden der verschiedenen Iiterarischen »Formen« (Gleichnisse, Wundergeschichten, Reden, Legenden, Mythen, Leidensgeschichten), (b) das Herausfinden ihres »Sitzes im Leben« - also von der dazugehörenden »formgebenden Gemeinschaft«, (c) das Bestimmen ihres historischen Wertes.

Formgeschichtliche Theorien

Von den genannten Vorstellungen und Überlegungen vorbelastet, gingen die Formkritiker nun an die Arbeit und bauten ihre verschiedenen theoretischen Standpunkte auf, von denen wir die wichtigen kurz streifen wollen:

1. K. L. Schmidt (1919) baute auf Wrede und Wellhausen auf, studierte den Aufbau von Markus sorgfältiger und unterschied zwischen der »Tradition« (einzelnen Überlieferungseinheiten oder »Perikopen«) und den »Redaktionen« (Verbindungen zwischen den Einheiten, also den Anhängen und Einflechtungen des Evangelisten). Er kam zu dem Schluss, dass die Chronologie und Geographie des Evangeliums unglaubwürdig seien und dass die »Redaktionen« Hinweise auf Markus' persönliche theologische Meinung erkennen liessen. Damit stimulierte Schmidt die weitere formhistorische Arbeit.

2. M. Dibelius (1919) ging davon aus, dass die Tradition in den Urgemeinden durch deren missionarische Bedürfnisse entstanden sei: Sie hätten Material aufgebaut, das bei den Predigten immer wieder gebraucht worden sei und so eine feste Form bekommen hätte. Daneben hätten sich durch andere Bedürfnisse neue Formen entwickelt: (a) Paradigmen (kurze Erzählungen, die in Beispielen eine moralische Lehre erläutern), (b) Novellen (Wundergeschichten, von Ge­schichtenerzählern geformt), (c) Sammlungen von »Wörtern« (Aussprachen, zusammengefasst für den Religionsunterricht), (d) Legenden (Heiligenerzählungen, z.B. über die Kindheit Jesu), (e) Mythen (z.B. die Versuchung Jesu in der Wüste; Jesu Verklärung) und (f) Leidensgeschichten. Ohne dafür historische Beweise zu haben, erfand DibeIus einfach folgende christlichen Arbeiter, die alle ihre eigenen Überlieferungen entwickelt haben sollen: Prediger, Erzähler und Lehrer.

3. R. Bultmann (1919) leugnete im Gegensatz zu Dibelius die wesentliche Historizität der Überlieferung (bis auf einzelne »Worte«) und schrieb sie ganz den Erfindungen der Urgemeinde zu. Bultmanns tiefwurzelnde Vorurteile stammen von der historischen Kritik (A. Harnack), dem Existentialismus (M. Heidegger) und der vergleichenden Religionswissenschaft (R. Reitzenstein, W. Bousset) und machten es ihm vollkommen unmöglich, die Evangelien historisch auch nur einigermassen ernst zu nehmen; er konnte sie nur als Ergebnisse einer phantasiereichen Gemeindetheologie betrachten. Bultmann unterschied folgende Formen: (a) Apophthegmen (etwa identisch mit Dibelius' Paradigmen), (b) Wundergeschichten, (c) Legenden (zu denen er auch die Mythen rechnete) und (d) »Wörter«; diese teilte er wie folgt auf: Weisheitswörter (Sprüche), »Ich«-Wörter (von der Gemeinde erfundene Aussagen von Jesus über sich selbst), prophetische und apokalyptische Aussagen, Gesetze und Vorschrif­ten und schliesslich Gleichnisse, von ihm ebenfalls alle als »unecht« angesehen.

Das einzige, was Bultmann noch als authentisch anerkannte, waren etwa vierzig »Wörter« und die Tatsache, dass Jesus gelebt hat und am Kreuz gestorben ist. Alles übrige sei von der Gemeinde bearbeitet oder erfunden. Das mag uns erschütternd scheinen, aber für Bultmann ist es das nicht, weil er auf Grund philosophischer Vorurteile schon längst eine mögliche Verbindung zwischen Historie und Glauben verworfen hatte. Er glaubte auf der einen Seite, dass der historische Jesus (wer immer das auch gewesen sein mag) schon seit mehr als 1900 Jahren tot ist und predigte auf der anderen Seite, dass die Essenz des Christentums die »existentielle Begegnung mit Christus« ist. Was er aber nicht erklärt, ist, wie denn nun die Urgemeinde ihre Phantasie hat walten lassen können: (a) in solch einer kurzen Zeit (bis zu den ersten geschriebenen Quellen), (b) angesichts so vieler kritischer Augenzeugen von Jesu Leben und Sterben, die zu der Zeit noch lebten, (c) trotz der Aufmerksamkeit der Urchristen für die Tatsachen, der grossen Gelehrtheit vieler unter ihnen (siehe Paulus!), ihrer hohen Integrität und ihres moralischen Lebensstandards (siehe unten).

4. E. Käsemann (1954) rief zusammen mit G. Bornkamm (1956), E. Fuchs (1957) und T. M. Robinson (1959) als Reaktion auf Bultmanns tiefen historischen Skeptizismus eine neue Bewegung hervor. Sie forschten weiter nach historischen Aussagen und Taten Jesu in den Evangelien, schafften es aber nicht mehr, eine Verbindung zwischen dem historischen Jesus und dem Kerygma (der Christusverkündigung) der Urgemeinde zu finden.

5. Die englischen Formkritiker B. S. Easton (1928), V. Taylor (1935) und E. B. Redlich (1939) studierten ebenfalls literarische Formen in den Evangelien, aber sie verwarfen den historischen Skeptizis­mus Bultmanns und beschränkten sich auf eine reine Literarkritik. Sie erkannten richtig, dass das reine Studium der Formen keine einzige Aussage über eine historische Glaubwürdigkeit machen kann. Taylor und Redlich verwarfen dann auch Klassifizierungen wie »Legenden« und »Mythen«, weil sich diese Definitionen nicht auf literarische Formen gründeten, sondern auf den Inhalt.

Spätere Entwicklungen

1. Es ist selbstverständlich, dass das, was mit den Evangelien begonnen hatte, sich allmählich auch auf das ganze Neue Testament ausbreitete. M. Dibelius (1956) und E. Haenchen (1961) wandten die Formkritik auf die Apostelgeschichte an, andere suchten nach literarischen Formen (Bruchstücken alter Kirchenriten und Litur­gien) in den Briefen und der Offenbarung und versuchten, auch dafür den »Sitz im Leben« zu bestimmen. E. Lohmeyer (1956) stimulierte diese Forschung, weil er meinte, in Philipper 2 eine »Christushymne« entdeckt zu haben.

2. Nachdem die Formkritiker die Gemeindetheologie so sehr betont hatten, fing man an, sich für die theologischen Ansichten der Evangelisten selber zu interessieren. Nach der formhistorischen entstand so die redaktions-historische Schule (Redaktionsgeschichte), und zwar mit den Werken H. Conzelmanns über Lukas und W. Marx­sens (1959) über Markus. Neben dem »Sitz im Leben« im Leben Jesu selber und dem »Sitz im Leben« der Urgemeinde unterschied man nun auch den »Sitz im Leben« bei den eigentlichen Evangelisten, von denen jeder (anders als bei der Gemeindetheologie) mit eigenem Ziel und Bedürfnis das Material redigiert und zusammengestellt habe. Übrigens könne man diesen Ietzten »Sitz im Leben« nur über die »Entdeckungen« kennenlernen, die man über den »Sitz im Leben« der Urgemeinden und der weitgehenden Heilsgeschichte gemacht habe. Demnach (so behauptet Marxsen) sei Markus derjenige, der Jesu Wiederkunft sofort erwartete und darum sein Evangelium (in galiläischer Umgebung, bei Ausbruch des jüdischen Krieges) als eine Art Predigt schrieb, um so der Gemeinde in Judäa zu raten, nach Galiläa zu flüchten und dort die Wiederkunft Christi zu erwarten. Dagegen habe nach Conzelmann Lukas (der u.a. das Material von Markus auf seine Weise verarbeitete) sein Evangelium in einer Zeit geschrieben, als die Erwartung der baldigen Wie­derkunft Jesu vorüber war und die Gemeinde anfangen musste, sich der Aufgabe und Berufung hier auf Erden zu stellen. Auf die glei­che Weise behandelten G. Bornkamm, G. Barth und H. J. Held (1960) wie auch P. Bonnard (1963) das Matthäusevangelium und E. Haenchen (1961) die Apostelgeschichte. Diesen Theorien einer »Gemeinde-Theologie« und einer »individuellen Theologie der neutestamentlichen Verfasser« begegnen wir mit denselben Einwänden wie gegen die Formkritik. Das Ganze würde uns sonst noch mehr von den ursprünglichen historischen Tatsachen entfernen...

3. Im 20. Jhdt. ist die Theologie des Neuen Testaments dermassen mit den historisch-kritischen »Ergebnissen« verwoben, dass sie das ganze Neue Testament nur noch durch eine historische Brille betrachtet. Neben der Frage der Redaktionshistorik (wie jedes einzelne Buch seine Form bekommen haben könnte) kommt jetzt auch noch die Frage auf, welche Faktoren in der fortlaufenden Heilsgeschichte die Zusammenstellung des ganzen Neuen Testaments bestimmt haben könnten. Welche verbindenden Prinzipien, welche Tendenzen kann man in diesem Zusammenstellungsprozess (eigentlich einer Art »Makro-Redaktionsgeschichte«) entdecken? R. Bultmann (1953 und 0. Cullmann (1946,1965) haben auf diesem Gebiet massgebliche Arbeit geleistet; hauptsächlich Bultmann, indem er Heideggers Existentialismus anwandte. Ausserdem entwickelte er analog mit der Kritik am Alten Testament (Kapitel 7) eine neue Art neutestamentlicher Hermeneutik (Lehre der Auslegung), die stark gefärbt war von den neuen philosophischen »Erkenntnissen«; in den sechziger Jahren haben vor allem E. Fuchs und G. EpeIing diese Arbeit fortgesetzt.

Datum: 15.06.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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