Allgemeine Einwände gegen die Kritik am Neuen Testa­ment

Man kann gegen die neutestamentliche Kritik teilweise dieselben fundamentalen Einwände anführen wie gegen die alttestamentliche (vgl. Kapitel 7), z.B.:

1. Westliche Prätention (Anspruch, Anmassung): die Vermessenheit, mit der man sich ein Urteil über vermeintliche »literarische Formen« in Schriften erlaubte, die aus einer anderen Zeit und Kultur stammen.

2. Keine objektiven Beweise. Es gibt nicht den geringsten Beweis für einen Ur-Markus oder Quellen wie Q, M und L (siehe oben); noch weniger Beweise gibt es für »Perikopen«, die das Produkt der Gemeindetheologie sein sollen, aber kaum etwas mit dem historischen Jesus zu tun haben; im Gegenteil: Da, wo etwas aus der Überlieferung über die Entstehung der Evangelien bekannt ist, werden solche Angaben von den Kritikern einfach zur Seite geschoben.

3. Desintegrierende Behandlung. Man hat kein Auge für die wun­derbare spezifische Einheit eines jeden Evangeliums; man will behaupten, dass der uniforme Sprachgebrauch von Johannes den Gebrauch von Quellen ausschliesst, aber man wendet diese Regel nicht auf die »Synoptiker« an.

4. Kreisdenken. Dieses findet man (a) in der Behandlung des gesamten Neuen Testaments: Aufgrund von einigen herausgegriffenen Büchern der Bibel macht man sich nach subjektiven Kriterien ein Bild von der ältesten Kirchengeschichte, um anschliessend wegen dieser Bilder die übrigen neutestamentlichen Bücher als nichthistorisch zu verwerfen. (b) Auch in der Behandlung einzelner Bücher findet man dieses Kreisdenken: Anhand von Kriterien, die ebenfalls subjektiv sind, erklärt man bestimmte Fragmente (nach den angewandten Vorurteilen »traditionelle Elemente« genannt) als älter, wonach man die übrigen Stellen aufgrund dieses Bildes als Repräsentanten »späterer theologische Auffassungen« abstempelt! Wie angebracht unser Einwand ist, zeigt sich in der Willkür, mit der man bei solch einem Kreisdenken vorging, nämlich nach eigenem Geschmack und eigener Vorliebe. So werden die Evangelien abwechselnd dazu benutzt, sich gegenseitig unglaubwürdig zu machen, oder aber man gebrauchte beispielsweise den Brief an die Galater, um die historische Unglaubwürdigkeit der Apostelgeschichte aufzuzeigen und umgekehrt. Dass dieses geschehen kann, liegt einfach daran, dass objektive (also von dem Forscher unabhängige) Kriterien fehlen. Darum ist die kritische Methode als unwissenschaftlich anzusehen. Wäre sie wissenschaftlich, würden verschiedene Forscher, die anhand objektiver Kriterien dasselbe Material studierten, zu Resultaten kommen müssen, die im wesentlichen gleich sind; aber in der »Bibelkritik« gibt es beinahe ebensoviele und widersprüchliche Ergebnisse, wie es Forscher gibt.

5. Archäologie. Gegen das Argument der Formkritiker, dass die ersten Christen (und auch die neutestamentlichen Verfasser) im wesentlichen nicht an der Historizität der christlichen GIaubensfund­mente interessiert waren, gibt es viele archäologische Einwände. So hat die Archäologie die aussergewöhnliche Sorgfalt von Lukas als Historiker (in seinem Evangelium und in der Apostelgeschichte) au-gezeigt und damit bewiesen, wie sehr Lukas wirklich an einer h­storischen Glaubwürdigkeit seiner Schriften interessiert war. Ferner haben die Qumranrollen (Kapitel 3) und die Cheneboskion-Papyri deutlich bewiesen, dass das Christentum unmöglich ein Produkt gnostizistischen Denkens (siehe oben) gewesen sein kann - etwas, das sich im Grunde schon durch die Schriften der Kirchenväter he-ausgestellt hatte; aber damit wollten die Kritiker sich ja nicht befassen.

6. Philosophischer Hintergrund. Auch hier ist es sehr wichtig zu erkennen, dass die Bibelkritik im Wesen nicht in objektiven Methoden und wissenschaftlichen Ergebnissen wurzelt, sondern in bestimmten philosophischen Vorurteilen, die für viele vielleicht glaubwürdig erscheinen mögen, aber darum noch lange nicht der Wahrheit entsprechen müssen. So schliesst das rationalistische Vorurteil von vornherein die Möglichkeit übernatürlicher Wunder, göttlicher Offenbarung und Inspiration aus. So macht das »moderne wissenschaftliche Weltbild« (im Grunde eine wissenschaftlich anfechtbare, naturphilosophische Weltanschauung) von vornherein den Glauben an eine Jungfrauengeburt und eine leibliche Aufer­stehung Christi unmöglich. Nur so kann Bultmann auf Grund des Existentialismus, in dem er erzogen war, schon von vornherein eine Verbindung zwischen Historik und Glauben als nicht bestehend und nicht zur Sache gehörend verwerfen!

Spezielle Einwände gegen die Formkritik

Die formhistorische Methode ist darum Dreh- und Angelpunkt der neutestamentlichen Kritik, weil sie einerseits die frühe Quellenscheidungstheorie vertieft hat und andererseits die Basis der späteren redaktionell-historischen Methode bildet. Darum wollen wir nun auch vornehmlich die Formkritik näher untersuchen. E. B. RedIich (1939) hat die Ausgangspunkte radikaler Formkritiker folgen-dermassen zusammengefasst:

1. Bevor die Evangelien geschrieben wurden, gab es eine Zeit der mündlichen Überlieferung.

2. Während dieser Periode zirkulierten die Geschichten und »Wörter« (ausser der Leidensgeschichte) als einzelne, komplette Bücher, »Perikopen« genannt.

3. Das Material in den Evangelien kann nach literarischen Formen klassifiziert werden.

4. Die lebendigen Faktoren, die diese Formen produzierten und bewahrten, müssen in den praktischen Belangen der christlichen Gemeinschaft gefunden werden.

5. Die Gemeinschaft hatte kein biographisches Interesse, so dass die Evangelien keinen biographischen, chronologischen oder geographischen Wert haben.

6. Die ursprüngliche Form der Überlieferungen kann durch das Studium der Gesetzmässigkeiten der Überlieferung rekonstruiert werden.

Wir wollen nun in derselben Reihenfolge an jedem Ausgangspunkt kurz zeigen, dass er unwahr ist, oder aber nur begrenzt den Tatsachen entspricht.

1. a. Ohne Zweifel gab es zwischen dem Anfang der Gemeinde und dem Niederschreiben der Evangelien eine Periode »mündlicher Überlieferung«, aber die dauerte wahrscheinlich nicht länger als 15=24 Jahre, also weniger als eine Generation! Es ist absurd, aufgrund dessen, was über verschiedene Jahrhunderte mit anderen »Volksgeschichten« passiert, anzunehmen, dass die »Überlieferung«, die Jesus betrifft, in dieser kurzen Zeit genauso zweifelhaft wurde.

b. In diesen ca. zwanzig Jahren lebten noch Tausende von Augenzeugen des Lebens und des Sterbens Jesu. Von den Kritikern werden diese Augenzeugen nicht im geringsten beachtet! Aber gerade diese, besonders wenn sie Christen waren, garantierten die Genauigkeit der Überlieferung, und wenn es Feinde des Christentums waren, wären sie ja die Ersten gewesen, die über jede Abweichung von wirklichen Tatsachen ihren Spott getrieben hätten.

c. Die Apostelgeschichte zeigt uns, wie die ersten Christen und vor allem die Apostel mit grösster Sorgfalt die Worte und Taten Christi bewahrten und sich sogar oft darauf beriefen, Augenzeugen gewesen zu sein. Sie waren Juden, die als solche in sorgfältiger Überlieferung geübt waren, wie auch im wortwörtlichen Behalten des Unterrichts ihrer Rabbiner; sie werden die Worte Christi auch bei ihren Zusammenkünften immer wiederholt haben.

d. Die Kritiker vergessen nicht nur die kurze Dauer der mündlichen Phase und die Rolle der vielen Augenzeugen, einschliesslich der mit Autorität versehenen Apostel, sondern vor allem die »Rolle« des Heiligen Geistes, durch den die Gemeinden entstanden waren.

2. Die Evangelien würden niemals anerkannt oder auch nur entstanden sein, wenn die »Perikopen« nicht von Anfang an als Elemente einer zusammenhängenden Geschichte anerkannt gewesen wären. Es gibt keinen Grund dafür, anzunehmen, dass wohl die »Perikopen« nicht aber die Reihenfolge und der Zusammenhang der Geschehnisse (wie namentlich in Markus) getreu überliefert sein sollten. Die Evangelien machen auch bestimmt nicht den Eindruck, als ob sie lose Sammlungen von Fragmenten seien. Im Gegenteil, ihre bemerkenswerte Einheit und ihr Zusammenhang, ohne interne Widersprüche, vermitteln uns genau das umgekehrte Bild.

3. a. Natürlich ist eine Klassifizierung in »literarische Formen« in solch vielseitigen Werken, wie es die Evangelien sind, im Prinzip immer möglich; aber diese Möglichkeit ist kein Beweis, dass demnach ursprünglich verschiedene Kategorien der Überlieferung vorhanden waren. Die vielen Probleme, die bei der Klassifizierung auftreten, weisen eher darauf hin, dass dies gerade nicht der Fall ist.

b. Jeder Kritiker benutzt sein eigenes Einteilungssystem und seine eigenen »Formarten«; ausserdem kritisieren sie die Resultate eines anderen sehr. Hier wird erkennbar, dass sie nicht von objektiven Kriterien ausgehen.

c. Noch schlimmer ist, dass sich die Kritiker anmassen, aus der »Form« einer »Perikope« Schlussfolgerungen über ihren historischen Wert zu ziehen! Sie haben weder Grund noch Recht dazu - ausserdem ist ihre Methode ein Kreisdenken, weil sie selber jeder »Perikope« ihre »Form« auferlegt haben, oft mit subjektiven Bezeich­nungen wie »Legenden« oder »Mythen«.

4. a. Es ist besonders wegen des hohen moralischen Massstabs der Urgemeinde und des Vorhandenseins zahlloser Augenzeugen und bevollmächtigter Apostel vollkommen absurd, anzunehmen, dass innerhalb von ca. 20 Jahren die wirklichen Tatsachen um Jesu Leben und Werk durch Erfindungen der sogenannten »formgebenden« Gemeinde ersetzt wurden. Durch das Vorhandensein der genannten Elemente hat die Urgemeinde niemals Raum gehabt für eigene »Hirngespinste« und war in jeder Phase dem Wort Gottes unterstellt!

b. Kreativität finden wir nicht bei einer Masse, sondern nur bei individuellen Personen, die über die Masse hinausragen; darum tragen Form und Inhalt der Überlieferung den Stempel Christi (des Lehrers), nicht den der Gemeinde (Schüler). Kein Apostel würde jemals imstande gewesen sein, die »Worte Jesu« selber auszudenken oder dessen Leben und Charakter, wie in den Evangelien beschrieben, zusammenzuphantasieren (vgl. Kapitel 1). Die Einheit der Evangelien gründet sich also auf die Einzigartigkeit der Person Jesu Christi und nicht auf die der Gemeinde. Die Urchristen würden auch nicht bereit gewesen sein, für das Produkt ihrer eigenen Einbildung zu sterben; sie waren aber wohl bereit, für ihre Botschaft zu sterben, weil sie wussten, dass sie authentisch war. Es ist eigentlich verwunderlich, dass die Formkritiker der »Einbildungskraft« der Gemeinden soviel mehr beimessen als dem, der schliesslich die Gemeinde gründete...

c. Erstens tragen die einfachen, unromantischen Geschichten in den Evangelien den Stempel authentischer Geschichtsschreibung und nicht die Merkmale literarischer Kunstprodukte oder eines späteren Hineininterpretieren, und zweitens geben die Evangelien uns überhaupt keine Hinweise auf die Probleme der Urgemeinden (wie die Formkritiker behaupten). Wenn jemand über interne Probleme gesprochen hat, war es Paulus, der seine Briefe schon geschrieben hatte, bevor das erste Evangelium erschien; doch wird keine seiner Aussagen in den Evangelien Jesus in den Mund gelegt; im Gegenteil, bestimmte Elemente aus den Evangelien (z.B. Gleichnisse) kommen nie in den Briefen vor.

d. Die Urgemeinde war nicht eine Gesellschaft einfacher, ungeschulter Leute, die treuherzig und unkritisch eine Art Folklore aufbauten (wie es die Formkritiker darzustellen versuchen), sondern sie kannten im Gegenteil solch begabte Leute wie Philippus, Stephanus, Barnabas, Jakobus, Markus, Lukas und Paulus.

e. Die ersten Christen waren nicht so erfüllt von der bevorstehenden Wiederkunft Jesu, dass sie nicht rational und historisch denken konnten (wie es die Formkritiker darstellen); wir ersehen aus der Apostelgeschichte und den Briefen, dass sie ein normales, arbeitsames Leben führten und dazu auch angehalten wurden.

f. Zusammenfassend: Wenn der christliche Glaube die »historischen Tatsachen um Jesus« schuf, was schuf dann wohl den christlichen Glauben?

5. a. Wenn schon die erste Generation der Christen nicht an bio­ und geographischen und chronologischen Einzelheiten interessiert war, warum fragte die zweite Generation dann wohl nach einer fortlaufenden Geschichte von Christus (also auch nach dieser Art Einzelheiten), wie wir sie in den Evangelien finden?

b. Die Tatsache, dass die Evangelisten keine strikten Biographien schrieben (weil sie ein anderes Ziel anstrebten), bedeutet noch lange nicht, dass sie damit nicht an biographischen Einzelheiten interessiert oder historisch unglaubwürdig waren. Sie verfügten über eine enorme Menge dieser Art Informationen (siehe Johannes 21,25) und bauschten auch nicht einzelne kleine Tatsachen zu einem phantasiereichen Kunstprodukt auf, sondern suchten (umgekehrt!) gerade aus der Menge der Erinnerungen, ein bestimmtes (historisch glaubwürdiges) Bild von Christus wiederzugeben.

c. Warum sollten die ersten Christen fortwährend betont haben, dass sie Augenzeugen von Jesu Leben und Werk waren, wenn sie kein biographisches und chronologisches Interesse an seiner Person hatten? Lukas (1,1-4) beruft sich ja ausdrücklich auf Augenzeugen und sein Verlangen, gerade diese spezielle Art Information getreu weiterzugeben. Die Archäologie (siehe oben) hat in vielfacher Hinsicht gezeigt, wie vortrefflich ihm das gelungen ist.

d. Markus berichtet in seinem Evangelium über viele geographische, biographische und chronologische Einzelheiten, die innerhalb seiner Geschichte nicht zu erklären wären, wenn sie nicht in der Tat auf glaubwürdige Überlieferungen zurückzuführen wären.

e. Dass Matthäus und Lukas manches Mal absichtlich das Material von Markus in einer anderen Reihenfolge wiedergeben, geschieht nicht deshalb, weil sie eine andere historische Meinung als Markus vertraten, sondern einfach deshalb, weil eine bestimmte Rangordnung nach Themen dem Ziel, das jeder ganz speziell für sich hatte, besser diente.

6. Im Gegensatz zu dem, was die Formkritiker behaupten, zeigen Forschungen über Erinnerungsprozesse und Gerüchteverbreitung, dass die allgemeine Form einer Geschichte intakt bleibt, dass aber die Geschichte immer kürzer wird und immer mehr Details verliert. Die vielen kleinen Details in den Evangelien weisen darauf hin, dass sie mit Augenzeugenberichten vergleichbar sind, also mit »Informationen aus erster Hand«.

Schlussfolgerung

Es gibt in der ganzen Weltgeschichte keine historische Person, die so (auf »Historizität«) angegriffen wird wie Jesus von Nazareth. Man kann schwerlich behaupten, das sei aber trotzdem völlig unparteiisch und objektiv geschehen: Nur allzu oft haben die Formkritiker ihre Methoden mit ihrer persönlichen Meinung über den historischen Wert einer Geschichte oder Aussage in den Evangelien vermischt. Die moderne Bibelkritik hat bewiesen, dass sie nicht das Produkt gläubiger Forscher ist, die ein besseres Verständnis von der Bibel als dem autoritativen, inspirierten Wort Gottes in seinem historischen Rahmen anstrebten, sondern das von Rationalisten, die schon von vornherein den eigenen ausdrücklichen Anspruch der Bibel verwarfen. Aufgrund ihrer Vorurteile konnten sie daher schon nichts anderes mehr sehen als ein unvollkommenes Menschenwerk. Dabei erkennen wir die Tatsache, dass ihre methodischen Ausgangspunkte schon rein rational gesehen ungültig oder inakzeptabel sind (wie wir gerade ausführten), und dass ferner die Kritiker nicht die einzige Konsequenz daraus ziehen, dem Christentum ganz einfach »Lebewohl« zu sagen, sondern die Bibel gleichzeitig als ein Buch ansehen wollen, in dem auf die eine oder andere Weise auch Gott zu Wort kommt. Deshalb sind ihre Behauptungen nicht nur wissenschaftlich verwerflich (das ist noch nicht einmal das Wichtigste), sondern haben auch innerhalb der Christenheit durch ihren irreführenden »Glauben des doppelten Bodens« enorm viel Unheil angerichtet. Von daher leitet sich die äusserst dringende Notwendigkeit ab, den Christen aufs neue vor Augen zu halten, dass auch heute kein Grund vorhanden ist, die Glaubwürdigkeit der Bibel anzuzweifeln. Im Gegenteil! Wir haben heute mehr Grund denn je, daran festzuhalten, dass die Bibel nicht nur mit Autorität über un­er Heil spricht, sondern in engem Zusammenhang damit auch mit göttlicher Autorität über Natur und Geschichte spricht. Es gibt keine wirksamere Methode, um das Erste (Reden über das Heil) unbedeutend zu machen, als das Letzte zu verleugnen…...

Datum: 11.06.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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