Immer wieder Leim

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Teller

Scherben bringen Glück – doch was, wenn etwas Kostbares nicht in Brüche gehen darf?

Zur Hochzeit bekamen Anne und Herbert ein Frühstücksgeschirr geschenkt. Es stammte aus einer Bieler Töpferei und gefiel ihnen wegen des kräftigen Blaus. In über 20 Jahren hat es seine Farbe nicht verloren; es gehört zum Frühstückstisch wie der Kaffeekrug und das Brotkörbli.

Eines Tages geschah es: Eine Schüssel fiel auf einen der Teller. Entzwei ging er nicht – Schweizer Qualität –, aber drei Scherbenstücke sprangen weg. Anne fragte bei der Töpferei an, doch diese fertigte das Geschirr nicht mehr. Was tun?

Anne leimte den Teller und stellte ihn wieder auf den Tisch. Zu gebrauchen war er – mit einem Schönheitsfehler. Nicht gravierend, aber gut sichtbar. Der Abwaschmaschine war der Leim allerdings auf die Dauer nicht gewachsen. Nach einigen Monaten lösten sich die drei Stücke.

Statt sich zu ärgern, nahm Anne die Tube wieder zur Hand und leimte die Scherben an, zum zweiten Mal. Und Monate später nochmals. Herbert fand sich damit ab, dass sie den Teller nicht wegwerfen wollte. Wieder und wieder, über Jahre, hat Anne den schadhaften Teller geleimt und so dem Frühstück erhalten.

Wer von uns hat keinen Schaden? Eine Prägung in der Kindheit vielleicht, oder ein Schlag in der weiteren Entwicklung, eine innere Wunde, von der eine Narbe bleibt. Sind wir mit uns selbst ehrlich, erkennen wir das Defizit. Es liegt nahe, damit zu leben, auch wenn wir den Schaden gern heilen würden. Wir sind eben nicht perfekt, nicht im Grund unserer Seele, nicht in den Beziehungen.

So rechnen wir auch bei unseren Mitmenschen auf Verständnis – teilweise jedenfalls. Sie sollen uns mit unseren Schwächen und Kanten akzeptieren; denn wir tun es im Blick auf ihre Unvollkommenheiten auch. (Oder versuchen es wenigstens oder reden uns ein, es versuchen zu wollen…)

Was wäre, wenn Gott, der Schöpfer der Menschen, sich der schadhaften Exemplare in der Gattung homo sapiens entledigen würde? Entsorgen, auf die Müllhalde werfen: die einfachste Lösung. – Nein! Gott kittet, leimt. Er heilt Schaden. Gott fügt zusammen, stellt wieder her. Nicht so, dass das Frühere gänzlich unsichtbar würde. Aber so, dass seine göttliche Kraft im Ganzen wahrzunehmen ist.

Eine der erstaunlichsten Stellen der Bibel (Jesaja 57,15) redet von Gott, dem Heiligen, der abgehoben im Himmel thront, unnahbar hoch über den Menschen. Eben dieser Gott sagt: „Ich wohne auch bei den Gedemütigten, Zerschlagenen und Verzagten; ich gebe ihnen Hoffnung und neuen Mut!“

Dem Teller ist der jahrelange Gebrauch anzusehen. Den Schaden kann er nicht verbergen. Doch geleimt erfüllt er weiterhin seinen Zweck. Ich bin überzeugt: Wenn wir Gott gestatten, unseren Schaden zu heilen, werden wir ans Ziel des Lebens kommen.

Datum: 15.10.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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