Der Todesangst entkommen

Ein Jahr danach

Ihre Geschichte hat die Welt bewegt: Über hundert Tage verbrachten vier Deutsche, zwei Amerikanerinnen und zwei Australier im Gefängnis in Afghanistan. Das Ergehen dieser Mitarbeiter der Hilfsorganisation „Shelter“ war im vergangen Sommer und Herbst eines der Hauptthemen in vielen Zeitungen und Zeitschriften. Immer wieder wurde die Frage gestellt: „Werden die Gefangen freigelassen oder droht ihnen der Tod?“ Das damals herrschende Talibanregime hatten den „Shelter“-Mitarbeitern zu Unrecht vorgeworfen, Einheimische missioniert zu haben, und die acht Ausländer festgenommen. Margrit Stebner, eine der Gefangenen, blickt zurück auf die Gefangenschaft und die abenteuerliche Befreiung. Wie sie diese schlimmen Tage verarbeitet hat und wie es ihr heute geht, erzählt sie in diesem Interview. Frau Stebner, wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt?
Margit Stebner verbrachte über hundert Tage im Gefängnis in Afghanistan. Copyright: Foto Demand Lichtbilder.
Gefängnisfenster
Afghanistan
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Nach unserer Rückkehr nach Deutschland waren meine Kollegen und ich damit beschäftig, unsere Geschichte vor der Presse und in Gemeinden zu erzählen. Ausserdem haben wir alles zusammen mit Eberhard Mühlan in dem Buch „Gefangen in Kabul“ (Verlag Schulte & Gerth, Asslar) aufgeschrieben. Im Nachhinein muss ich sagen, dass es mir geholfen hat, das Erlebte immer wieder zu erzählen und mir Gottes Handeln vor Augen zu führen, um alles zu verarbeiten. Im April und Mai habe ich dann in der Schweiz ein Fortbildungsseminar besucht. Darüber hinaus habe ich ein Fernbibelstudium begonnen, das ich nebenberuflich überall auf der Welt weiterführen kann.

Wie kam es dazu, dass Sie nach Afghanistan ausgereist sind, und welche Tätigkeit haben Sie dort ausgeübt?

Zusammen mit einem grösseren Team bin ich im August 2000 nach Afghanistan geflogen. In Kabul bestand zu diesem Zeitpunkt ein kleines Büro der Organisation „Shelter Afghanistan“, in dem ich dann als Sekretärin gearbeitet habe. „Shelter Afghanistan“ ist ein humanitäres Hilfswerk, das vor allem Strassen, Häuser und Brunnen für die einheimische Bevölkerung baut und in Flüchtlingslagern Essen verteilt. Ausserdem betreibt die Organisation ein Projekt für Strassenkinder. Die Mitarbeiter von „Shelter“ verstehen ihre Arbeit als Barmherzigkeitsdienst. Indem sie Menschen in Not helfen, sind sie ein Zeugnis der Liebe Gottes.

Im Sommer 1998 habe ich Georg Taubmann, den Leiter von „Shelter Afghanistan“, auf einer Konferenz über seine Arbeit reden gehört. Während des ganzen Vortrags musste ich weinen, so tief hat mich das Leid der Menschen berührt. Am nächsten Morgen meinte eine Freundin: „Weisst du eigentlich, dass Georg eine deutsche Sekretärin sucht?“ In diesem Moment hat es bei mir gezündet. Ich habe angefangen für „Shelter“, für Afghanistan und Pakistan zu beten. Nach einigen Monaten kam es schliesslich zu einem Gespräch mit dem Leiter von „Shelter Germany“. Er hat es ermöglicht, dass ich mit einer Gruppe nach Pakistan reisen konnte, um meine Eindrücke vor Ort zu prüfen.

Als wir eines Tages über den Khyber-Pass an die Grenze nach Afghanistan fuhren, hatte ich das Gefühl, ich komme nach Hause. Es hat dann aber noch über ein Jahr gedauert, bis ich mit den Vorbereitung fertig war und ausreisen konnte. Die ersten Monate waren nicht leicht: Ich musste mich einer völlig anderen Kultur anpassen und als alleinstehende Frau darin zurechtkommen. Aber ich wusste: Gott hat mich nach Afghanistan gerufen.

Was genau geschah am 5. August 2001?

Unsere beiden amerikanischen Mitarbeiterinnen waren am 3. August von den Taliban verhaftet worden. Natürlich haben wir das ernst genommen. Wir waren sehr besorgt, dennoch dachten wir, dass sie bald wieder frei sein würden. Trotzdem wollten wir ein paar Sicherheitsvorkehrungen treffen – zum Beispiel einen Notkoffer packen für den Fall, dass wir schnell das Land verlassen mussten.

Am Sonntag, den 5. August, waren meine Kollegin Diana und ich am späten Vormittag auf dem Weg in unser Büro, um aus dem Safe persönliche Unterlagen und unser Geld zu holen. Als wir dort ankamen, war das Gebäude bereits von den Taliban durchsucht und übernommen worden. Ein paar bewaffnete Männer hinderten uns daran, hinein zu gehen. Sie hielten uns auch auf, als wir wieder weg gehen wollten. Schlagartig wurde uns klar, dass wir uns in ihrer Gewalt befanden. Obwohl nichts gegen uns vorlag, wurden wir festgenommen – einfach, weil wir Mitarbeiter von „Shelter Afghanistan“ waren. Als wir im Gefängnis ankamen, sassen unsere Kolleginnen Silke Dürrkopf und Kati Jelinek unter einem Baum im Innenhof und tranken Tee. Auch die beiden amerikanischen Kolleginnen waren da. Natürlich gab es ein Riesenhallo. Wir konnten ja nicht ahnen, dass wir für lange Zeit eingesperrt werden sollten.

Können Sie uns die Zustände im Gefängnis beschreiben?

Im ersten Gefängnis war die Situation katastrophal. Zu sechst wurden wir in einem Raum untergebracht, der so eng war, dass zwei von uns im Innenhof schliefen. Diesen kleinen Hof und die Toilette mussten wir uns mit 30 afghanischen Frauen teilen. Die Zustände waren sehr unhygienisch und schmuddelig. Von den alten Matratzen und Decken, die wir bekamen, waren einige voller Wanzen. Und natürlich gab es Läuse, Kakerlaken und anderes Viehzeug.

Zu Essen bekamen wir regelmässig, aber wenig. In afghanischen Gefängnissen ist es üblich, dass die Familienangehörigen ihren Leuten zusätzlich etwas zu essen bringen. Für uns kaufte dann ein Wärter auf dem Basar ein.

Insgesamt waren wir Frauen in zwei verschiedenen Gefängnissen, die Männer sogar in drei. Ausserdem wurden wir in den letzten Wochen nachts oft in einem anderen Gebäude untergebracht als tagsüber.

Was gehört für zu den schlimmsten Erfahrungen in dieser Zeit?

Die Tatsache, dass wir von der Aussenwelt isoliert waren, hat mich sehr belastet. Die Taliban hatten uns einfach weggeschlossen, und wir konnten niemandem sagen, wo wir sind – nicht einmal unseren Eltern. Später haben wir mitbekommen, dass Diplomaten und das Rote Kreuz versucht haben, uns zu sehen. Doch es wurde ihnen verweigert, weil unsere Verhöre noch andauerten. Erst nach drei Wochen konnten sie kurz zu uns, und wir durften ihnen sagen, dass es uns gut geht. Doch alles, was in den persönlichen Bereich hineinging, wurde sofort unterbunden.

Die Lage hat sich erst ein bisschen gelockert, als wir einen Anwalt bekamen. Ab diesem Zeitpunkt wurden uns auch Briefe überbracht. Anfang Oktober konnte ich dann per Satellitentelefon meine Mutter anrufen.

Und dann gab es Situationen, in denen ich gespürt habe, dass wir uns in Lebensgefahr befanden – zum Beispiel, als in der Folge des Terroranschlags vom 11. September im Oktober die Bombardierung Kabuls anfing. Die langen Nächte, in denen wir nichts sehen und nur die Einschläge hören konnten, waren eine extreme Erfahrung. In manchen Nächten kam eine Bombe nach der anderen runter. Jedes Mal wackelte das ganze Haus, in dem wir eingeschlossen waren – wir Frauen im ersten Stock und die Männer im Keller. Jetzt mussten wir auch immer mit Racheakten der Taliban rechnen, schliesslich waren wir die einzigen Ausländer im Land.

Wie haben Sie es in dieser schweren Zeit geschafft, an Gott festzuhalten?

An Gott festzuhalten ist das Einzige, was einem in so einer Situation bleibt! Obwohl es eine Hilfe ist, gemeinsam mit fünf anderen Frauen eingesperrt zu sein und sich gegenseitig zu tragen, gibt es Momente, in denen auch das nicht mehr hilft. Wenn es um die Frage nach dem Tod geht, ist man wirklich allein mit sich und Gott. Das Einzige, was dann trägt, ist die Beziehung zu ihm.

Für mich persönlich war es gut, dass ich vorher schon durch einige Situationen hindurchgegangen bin, dass ich Gott kannte und kein negatives Bild mehr von ihm hatte. Ich glaube, es hat vieles einfacher gemacht, dass ich offen für Gott geblieben bin und nicht angefangen habe, ihn anzuklagen. Gott würde mich nicht weniger lieben, wenn ich in Rebellion verfallen wäre. Aber es ist einfacher, nicht mit ihm zu hadern. Das gibt ihm die Möglichkeit, uns zu helfen und in unser Herz hineinzusprechen.

In dieser Zeit konnte ich auch besser nachvollziehen, wie Jesus Christus in seinen letzten Tagen gelitten haben muss. Mir wurde auf einmal viel realer, welchen Schmerz er auf sich genommen hat, als er ans Kreuz ging, um uns zu erlösen. Ich habe begriffen, dass es keine billige Gnade gibt und wir das Opfer Jesu nicht als selbstverständlich hinnehmen können. Plötzlich musste ich nicht mehr fragen: „Gott, wieso lässt du Leid zu?“ Denn er selbst ist durch Leid gegangen. So schlimm wie ihm ging es uns nicht! An Gottes Liebe habe ich nicht mehr zweifeln können.

Ein wesentlicher Punkt waren die zwei festen Gebetszeiten, die wir Frauen im Gefängnis eingerichtet hatten. Jeden Tag haben wir miteinander gebetet, in der Bibel gelesen, Gott gelobt und viel gesungen. Von Anfang an war uns klar: Es ist kein Zufall, dass wir im Gefängnis sind – wir haben hier einen Auftrag! Gott hat uns schnell aufs Herz gelegt, für das Land, für die Frauen auf dem Gelände, für unsere Familienangehörigen und natürlich auch für unsere Situation zu beten. Zeit genug hatten wir ja! Mir hat das Wissen, dass unser Aufenthalt im Gefängnis keine sinnlose Übung ist, geholfen, die Zeit durchzustehen. Und nicht nur das: Dadurch, dass wir im Gefängnis sassen, begannen Menschen auf der ganzen Welt, im Gebet für dieses Land einzustehen.

Wie sah Ihr Tagesablauf im Gefängnis aus?

Da es ausser den Mahlzeiten keine festen Punkte im Tagesablauf gab, haben wir uns recht schnell eigene Strukturen geschaffen. Dazu zählten nicht nur die Gebetszeiten, alles war geordnet und geplant – vom Abwasch bis zum Saubermachen. Die Dienstpläne, die wir aufgestellt haben, waren ein Teil unserer Überlebensstrategie!

Fachleute haben uns später gesagt, dass wir genau das Richtige getan haben. Oft sind es ganz simple Dinge, die einem helfen, das Leben erträglicher zu machen. Dass man sich zum Beispiel auch äusserlich nicht gehen lässt und soweit wie möglich Körperpflege betreibt. Irgendwann bekamen wir von der amerikanischen Botschaft ein Beauty Case mit Cremetöpfchen und vielen Farben geschenkt! Das haben wir dann ausgiebig benutzt.

An ein Ereignis erinnere ich mich besonders gern. Meine Kollegin hatte Geburtstag, und als die Wärterin weg war, fingen unsere Mitgefangenen an, für Diana zu tanzen und auf ihren alten Waschschüsseln zu trommeln. Dann zeigten sie uns die Tanzschritte und wir mussten mitmachen. Selbst im Gefängnis liessen sich diese Frauen nicht unterkriegen.

Haben Sie sich nie von Gott verlassen gefühlt?

Es gab zwar immer wieder Momente, in denen es wirklich tief runter ging – zum Beispiel, wenn wir ohne Vorwarnung in ein anderes Gefängnis verlegt wurden. Aber gerade dann hat Gott uns gezeigt, dass er uns nicht verlassen hat. Als wir nach sechs Wochen zum ersten Mal verlegt wurden, war das zunächst ein grosser Schreck für mich. Innerhalb von Minuten mussten wir unsere Sachen zusammenpacken. Dann wurden wir in einen Wagen gepfercht. Keiner von uns wusste, wohin es ging.

Schliesslich kamen wir zu einem Gefängnis, in dem eine sehr bedrückende Atmosphäre herrschte. Ich litt an diesem Tag unter Amöbenruhr. Nachdem ich um eine Matratze zum Hinlegen gebeten hatte, wurde gleich ein ganzes Bett gebracht und in den Innenhof gestellt. Als ich nun allein in der Sonne lag, schüttete ich Gott mein Herz aus: meine Verzweiflung, meine Angst, die Ungewissheit. Auf einmal kam eine tiefe Ruhe und Geborgenheit über mich und mir war, als würde Gott viele Engel in das Gelände hineinbewegen. In diesem Moment empfand ich, dass die Atmosphäre sich veränderte und heller wurde. Und dann hatte ich das Gefühl, als würde Gott zu mir sagen: „Es wird hier besser und einfacher für euch.“ Das hat mich unglaublich getröstet. Die Situation in diesem Gefängnis wurde dann auch wirklich einfacher - zumindest für uns Frauen.

Im 20. Jahrhundert sind weltweit mehr Märtyrer wegen ihres Glaubens umgebracht worden als in allen Jahrhunderten vorher. Was ist Ihrer Meinung nach der Sinn ihres Leidens und Sterbens?

Ich glaube, darauf gibt es keine einfachen Antworten. Bis ins Letzte kann man das Leiden der Märtyrer wohl nicht erklären. Auch als Christen sind uns viele Geheimnisse noch nicht aufgeschlossen. Aber ein Sinn könnte mitunter darin liegen, dass wir durch Leiden Christus ähnlicher werden, dass unser Charakter und unser Wesen entsprechend verändert werden. Ich bin mir sicher, dass Gott uns nicht quälen möchte. Zudem leben wir in einer kaputten Welt. Wenn wir Jesus folgen wollen, wird es immer Konfrontationen geben, und wir werden kein friedliches Leben haben. Auch wenn Christen im Westen keine direkte Verfolgung erleiden, bekommen sie doch Ablehnung und Spott zu spüren – das ist auch eine Form von Verfolgung.

Haben Sie noch an Rettung geglaubt, oder waren Sie bereit, selbst als Märtyrer zu sterben?

Von Anfang an hatten wir den Eindruck, dass wir heil und gesund aus dem Ganzen herauskommen würden. Wie bei der biblischen Geschichte im Buch Daniel, Kapitel 3, bei der die drei Freunde unversehrt aus dem Feuerofen heraustreten. Diese Gewissheit zog sich wie ein Faden durch die Zeit im Gefängnis. Die Angst kroch nur zeitweise in uns hoch. Ich kann wirklich sagen, dass wir alle einen übernatürlichen Frieden hatten.

Trotzdem gab es Momente, in denen wir uns mit dem Sterben auseinandersetzen mussten. An einem Tag bin ich damit bewusst ins Gebet gegangen. Dabei habe ich gemerkt: Ich hätte grosse Angst davor. Doch auch, wenn es mir sicher nicht leicht gefallen wäre, war ich bereit, den Tod auf mich zu nehmen, wenn das Gott und seinen Zielen dienen würde. Ich hatte das Vertrauen, dass er mir durch eine solch schmerzhafte Situation durchhelfen würde. Vor dem Sterben an sich hatte ich keine Angst, aber vor einem gewaltsamen Tod.

Für mich war es wichtig, ehrlich mit mir selbst und Gott zu sein. Diese Auseinandersetzung mit dem Tod war keine leichte Sache, aber sie hat mich Gott näher gebracht und die Beziehung zu ihm verändert – sie tiefer und vielleicht auch ein bisschen ernsthafter gemacht.

Können Sie beschreiben, wie Sie den letzten Tag im Gefängnis und ihre Befreiung erlebt haben?

Seit Tagen spürten wir, dass etwas in der Luft lag. Die Spannung der vergangenen Wochen war durch die Bombardierung noch gestiegen. Die Taliban merkten, dass sie immer mehr an Macht verloren, und das äusserte sich darin, dass auch die Wächter, die bis dahin freundlich mit uns umgegangen waren, immer unfreundlicher wurden. Georg hatte sich ein Radio ins Gefängnis schmuggeln lassen. Wenn wir Frauen zusammen mit den inhaftierten Männern von unserem Nachtgefängnis zurückgefahren wurden, steckte er uns Briefchen mit den neusten Nachrichten zu. Deshalb wussten wir, dass die Nordallianz dicht vor Kabul stand.

Am Abend des 12. November polterte es gegen halb zehn an unsere Tür. Ein paar Männer standen draussen, schwer bewaffnet, hektisch und aufgeregt. Wir alle wurden in einen Landcruiser gepfercht, und dann donnerten wir durch die Nacht in Richtung Kandahar. Bei mir machte sich Todesangst breit. Jeder von uns betete im Stillen. Plötzlich zog eine Kollegin eine kleine Taschenlampe hervor und begann aus der Bibel vorzulesen. Gemeinsam fingen wir nun an zu singen, laut zu beten und Bibelverse zu zitieren. Kein Talib fuhr dazwischen. Und auf einmal spürten wir intensiv Gottes Gegenwart im Auto. Wieder hatte ich einen tiefen inneren Frieden und musste denken: „Du bist auf dem Weg in die Freiheit!“ Doch ich behielt diesen Eindruck für mich, weil er in unserer Situation so unglaublich erschien.

Nachts um halb zwei hielten wir in einem Dorf an. Die Männer befahlen uns auszusteigen und in einen Frachtcontainer zu klettern. Panik stieg in mir hoch, denn ich wusste, was in solchen Containern schon geschehen war. „Die sperren uns da rein und jagen uns mit einer Handgranate hoch“, dachte ich voller Schrecken. Nachdem Georg mit den Wächtern verhandelt hatte, durften wir die Tür offen lassen, und einer der Wächter kam mit uns hinein. Die Nacht war eisig kalt, und wir hatten nur drei Decken. Bibbernd warteten wir auf den nächsten Tag. Als wir am frühen Morgen abgeholt wurden, waren wir völlig durchgefroren.

Die nächste Station hiess Ghasni. Dort sperrten uns die Taliban in den Seitentrakt eines Gefängnisses, das furchtbar heruntergekommen und schmutzig war. Kurz nachdem wir angekommen waren, brach draussen eine Schlacht los. Wir hörten, wie Menschen miteinander kämpften, vereinzelt knallten Schüsse und explodierten Bomben. Die ganze Situation war sehr verwirrend, weil wir nicht einschätzen konnten, was da vor sich ging. Als ich einen Blick aus dem Fenster warf, sah ich, dass sehr viele Taliban in eine Richtung davonliefen.

Wir waren alle auf dem Tiefpunkt angelangt. Tapfer hatten wir uns durch die letzten Stunden gebetet, doch jetzt wussten wir überhaupt nicht mehr, was los war. Ich hatte schon mit meinem Leben abgeschlossen. Auf einmal wurde es draussen ganz ruhig. Voller Anspannung hörten wir, wie sich eine Gruppe Männer unten an der Tür zu schaffen machte. „Ein wilder Mob, der uns lynchen will!“, war unser einziger Gedanke. Plötzlich sprang ein junger Mann in den Raum und rief: „Freiheit! Ihr seid frei!“ Wir konnten es kaum fassen.

Später erfuhren wir, dass es einen lokalen Bürgeraufstand gegeben hatte und die Bürger von Ghasni die Taliban innerhalb kurzer Zeit in die Flucht geschlagen hatten. Es war üblich, nach einer Befreiung zuerst die Gefängnisse zu öffnen, da viele Leute zu Unrecht eingesperrt waren. Wir waren also nicht gezielt befreit worden. Die Bürger hatten nicht gewusst, wer sich in ihrem Gefängnis befand!

Als wir schliesslich nach draussen kamen, herrschte in der Stadt eine Riesenstimmung. Die Menschen strömten auf die Strasse, die Frauen hatten ihre Ganzkörperschleier, die Burkas, weggeschmissen und jubelten, weil die Taliban fort waren. Es war ein einziger Triumphzug! Die nächsten zwei Tage blieben wir in Ghasni. Wir konnten nicht aus der Stadt weg, denn alles Land um uns herum war in der Hand der Taliban.

Georg hatte angefangen mit den Kommandanten der Stadt zu verhandeln und über das Rote Kreuz Kontakt zur amerikanischen Botschaft in Pakistan bekommen. Es wurde verabredet, dass in der Nacht vom 14. auf den 15. November eine Rettungsaktion per Hubschrauber stattfinden sollte. Nach einem nervenaufreibenden Hin und Her sassen wir gegen Mitternacht auf einem verlassenen Platz ausserhalb der Stadt. Plötzlich knatterte ein Helikopter über unsere Köpfe hinweg. Wir winkten und schrien, um auf uns aufmerksam zu machen. Doch der Pilot drehte ab und flog davon. Er hatte uns nicht gesehen! Zwei Stunden lang konnten uns die Amerikaner nicht finden, weil wir nur eine kleine Laterne als Erkennungszeichen mitgenommen hatten. Wir waren nahe daran aufzugeben! So kurz vor der Rettung - und dann das! „Gott, lass sie noch einmal kommen“, beteten wir. „Mach, dass sie uns sehen!“

Plötzlich kam meine Kollegin Heather Mercer auf eine Idee. Sie nahm ihren Tschador ab, tränkte den Schleier mit Kerosin aus unserer Laterne und entzündete es. Mit mehreren Kleidungsstücken und ein bisschen Holz hatten wir bald ein richtiges Feuer entfacht. Das half den Amerikanern schliesslich, uns zu finden.

Wie haben Sie die erste Zeit in Freiheit erlebt?

Die ersten Tage haben wir in Islamabad (Pakistan) verbracht. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich begriffen habe: Wir sind frei! Wir sind in Sicherheit!

Nachdem wir in Deutschland angekommen waren, ging es sofort weiter in ein psychologisches Zentrum, wo wir wiederholt über das sprechen konnten, was wir erlebt hatten. Im Gefängnis hatten wir sehr viele Verluste erlitten, vor allem, weil uns das Selbstbestimmungsrecht genommen worden war. Für mich war es sehr wichtig, wieder Entscheidungen darüber zu treffen, was ich machen will und was nicht.

Können Sie heute ohne Bitterkeit an die Zeit der Gefangenschaft zurückdenken?

Durch Jesus Christus und die Art, wie er mir begegnet ist, konnte ich die Entscheidung treffen, nicht bitter oder hart zu sein. Mit Gottes Hilfe kann ich vergeben. Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum wir nicht schwer krank oder traumatisiert, sondern halbwegs heil aus der Situation herausgekommen sind. Meiner Meinung nach sind die Menschen, die uns all das angetan haben, in ihrem System gefangen und handeln so, weil sie es als Recht empfinden. Mir bleibt nur, sie im Gebet abzugeben und zu hoffen, dass Gott eines Tages etwas in ihrem Leben tun wird.

Werden Sie nach Afghanistan zurückkehren?

Afghanistan liegt mir nach wie vor auf dem Herzen – vielleicht mehr als je zuvor. Ich habe die Hoffnung, jetzt mehr für die Menschen tun zu können als vorher, weil ich mich stärker mit ihnen identifizieren kann. Ich wünsche mir, dass das Land blüht und die Menschen echte Hoffnung finden. Wenn ich etwas dazu beitragen kann, dann will ich das tun.

Doch die politische Situation im Land ist noch nicht stabil, und auch die Lebensumstände sind sehr schwierig (z.B. unverhältnismässig hohe Mietpreise und Lebenshaltungskosten). Dennoch sind kürzlich einige vom „Shelter“-Team nach Kabul zurückgekehrt und versuchen, die Organisation neu aufzubauen. Meine Ausreise ist im Oktober geplant, und ich bin sehr gespannt, wie es sein wird, nach einem Jahr zurückzukommen.

Autorinnen: Elisabeth Mittelstädt & Saskia Barthelmess
Quelle: Lydia – die christliche Zeitschrift für die Frau, Heft 4/02. Mit freundlicher Genehmigung.

Datum: 25.09.2002

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