«Der Atheismus war unvereinbar mit jedem mir wichtigen Wert»
Sarah
Irving-Stonebraker ist überzeugte Atheistin. Sie braucht keine Religion, um
ihre Identität und ihre Werte darin zu gründen – bis sie mit einem Mal über
Dinge stolpert, die ihren Werten den Boden wegziehen. Was jetzt? Hier erzählt sie ihre Geschichte.
Dr. Sarah Irving-Stonebraker
Ich bin in Australien in
einem liebevollen, säkularen Zuhause aufgewachsen. Als ich an die Universität
von Sydney kam, kritisierte ich offen jede Religion. Ich brauchte keinen
Glauben, um meine Identität oder meine Werte darauf zu gründen. Schon mit acht
Jahren wusste ich, dass ich Geschichte in Cambridge studieren und Historikerin
werden wollte. Meine Identität lag in akademischen Leistungen und mein
säkularer Humanismus basierte auf offensichtlichen Wahrheiten. Als ich dann am
King's College in Cambridge meinen Doktor studierte, hatte ich dieselbe Meinung
über Christen wie meine Mitstudenten: Christen waren anti-intellektuell und
selbstgerecht.
Das Dilemma der
Philosophie
Nach Cambridge wurde ich Teil
einer Forschungsgruppe von Oxford. Dort besuchte ich drei Gastlesungen des
Weltklasse-Philosophen und Atheisten Peter Singer. Singer gab zu, dass die
Philosophie ein ärgerliches Problem im Bezug auf den Wert eines Menschen habe, da
die natürliche Welt kein ausgleichendes Bild über das menschliche Vermögen
gebe.
Was ist etwa mit einem Kind, dessen Behinderungen oder Krankheiten das
Denkvermögen negativ beeinflussen? Ohne einen Verweis auf festgelegte
Fähigkeiten als Grundlage vom menschlichen Wert wird der innere Wert aller
Menschen eine grundlose Behauptung. Als ich die Lesungen verliess, war mir
irgendwie auf intellektueller Ebene schwindelig. Und ich merkte nach und nach,
dass die atheistischen Implikationen unvereinbar waren mit fast jedem mir wichtigen Wert.
Wachsendes Interesse
An einem Nachmittag
merkte ich mit einem Mal, dass der Tisch in der Universitätsbibliothek, an den
ich mich immer setzte, direkt gegenüber der Theologie-Abteilung war. Zögernd öffnete ich ein Predigtbuch des Philosophen und Theologen Paul Tillich. Beim
Lesen war ich erstaunt, wie intellektuell überzeugend, komplex und tiefgehend
das Evangelium war. Mein Interesse wuchs, aber ich war noch nicht überzeugt.
Einige Monate später
wurde ich zu einem Abendessen der Internationalen Gesellschaft für wissenschaftliche und religiöse Studien eingeladen. Ich sass neben Professor Andrew Briggs,
der Christ war. Beim Essen fragte er mich, ob ich an Gott glaube. Ich suchte
krampfhaft nach der richtigen Antwort. War ich vielleicht Agnostikerin? Er
antwortete: «Willst du wirklich für immer auf dem Zaun sitzen?» Ich merkte,
dass wenn mir die Themen des menschlichen Wertes und der Ethik wirklich wichtig
waren, dann reichte es nicht aus zu sagen, dass es vielleicht einen Gott
gibt oder vielleicht nicht.
Christen: Ganz anders
als gedacht
Im Sommer 2008 begann
ich, an der Florida State University zu unterrichten. Hier beobachtete ich ein
ganz aktives Christentum von Menschen, die ihr Leben am Evangelium
ausrichteten: Sie gaben Obdachlosen jede Woche zu essen, leiteten
Gemeinschaftszentren, Wohnheime und kümmerten sich um Einwanderer. Kurz vor meinem
28. Geburtstag, an einem Sonntag, ging ich zum ersten Mal in eine Kirche – als
jemand, der wirklich Gott suchte. Und ich wurde völlig überwältigt. Endlich
fühlte ich mich erkannt, gesehen und bedingungslos geliebt – vielleicht war es
auch die Erleichterung, nicht länger vor Gott wegzulaufen. Ein Freund gab mir
das C.S. Lewis-Buch «Pardon, ich bin Christ» zu lesen und eines Abends kniete
ich mich im Schrank meiner Wohnung hin und bat Jesus, dass er mich rettet und
Herr meines Lebens wird.
Von da an las ich die
Bibel und erforschte Theologen wie Reinhold Niebuhr, Paul Ramsey und F.D.
Maurice. Das Christentum war überhaupt nicht so, wie ich es mir vorgestellt
hatte. Gerade die Geschichte, wie Jakob mit Gott kämpft, bewegte mich: Gott
möchte keineswegs diesen Glauben, der nicht selbst denkt – so wie ich gemeint hatte. Gott möchte, dass wir mit ihm kämpfen, dass wir mit Zweifel und Glauben,
Sorgen und Hoffnung kämpfen. Und Gott möchte gebrochene Menschen, nicht
selbstgerechte.
Das Christentum war zu
meiner Überraschung auch radikal – viel radikaler als die linksgerichteten
Ideologien, mit denen ich mich zuvor umgab. Gottes Liebe machte einfach keinen
Sinn: Als er durch Jesus zum Menschen wurde, handelte Gott überhaupt nicht wie
ein Gott. Warum sollte man den Tod erleiden oder sich mit Leprakranken abgeben,
wenn man Gott ist? Gott erlitt die Strafe an unserer Stelle wegen seiner
radikalen Liebe. Und diese aufopfernde Liebe steht im völligen Gegensatz zum
Individualismus, Konsumismus, zur Ausbeutung und Objektifizierung unserer
Kultur. Christ zu sein bedeutet, Teil einer neuen, radikalen Schöpfung zu
sein.
Heute ist Sarah
Irving-Stonebraker Professorin für Moderne Europäische Geschichte an der
Western Sydney University in Australien.