Sterben oder leben?

Jamina ist etwa 17 Jahre alt, genau weiss das keiner. Sie ist die Älteste von fünf Kindern, drei Mädchen und zwei Jungs. 2006 starben beide Eltern, die Mutter im Februar, der Vater im August. Todesursache: übermässiger Alkoholmissbrauch. Mit 14 oder 15 wurde Jamina an einen Mann verheiratet (verschachert), der schon eine Frau hatte. Kurz darauf war sie zum ersten Mal schwanger, verlor aber das Kind. Dann wurde sie wieder schwanger. Sie kam zu Besuch unter die Brücke, wo sie aufgewachsen war und ihre Schwestern und der Onkel mit Familie immer noch leben.

Als ich Jamina im Februar einmal auf der Strasse sah, dachte ich: “Na ja, jetzt sieht man wenigstens dass sie schwanger ist!“ Aber ich war dann doch sehr erstaunt, als schon am nächsten Tag bekannt wurde, dass sie in der Nacht einen kleinen Sohn geboren hatte, natürlich unter der Brücke in Staub und Schmutz. Ich ging sie besuchen und brachte ihr ein paar Kleider für ihr Kindchen. Es war wirklich sehr winzig und sehr süss. Und Jamina von den Strapazen noch sehr müde.

Den Kleinen habe ich nicht mehr gesehen. Ich kehrte kurz darauf in die Schweiz zurück. Als ich wieder kam, war er gestorben. Er hatte drei Monate gelebt.

Gestern nun fragte ich Jamina, was mir ihrem Jungen geschehen sei. Sie erzählte mir, dass sie nicht genügend Milch für ihn gehabt habe. So versuchte sie, ihm normale Milch zu geben. Er wurde krank und starb. Hat er die Milch nicht ertragen, war es zu wenig und er starb an Unterernährung, war die Flasche schmutzig und er bekam Durchfall? Ich weiss es nicht!

Ebenfalls gestern las ich in der Zeitung von einem kleinen Mädchen, ebenfalls in Indien, das mit einem nur teilweise ausgeformten Zwilling zusammengewachsen war. Es wurde in einer 27-stündigen Operation von ihm getrennt. Die Operation ist gelungen, das Mädchen erholt sich und wird fähig sein, ein normales Leben zu leben.

Zwei kleine Kinder: beide begannen ihr Leben in Indien, des einen Leben ist schon vorbei, das andere hat nun eine gute Zukunft vor sich. Ist das gerecht oder ungerecht?

Eines weiss ich: Wenn Jesus nochmals wiederkäme als kleines Kind, würde er wohl nicht in einem Stall geboren werden, sondern irgendwo in so einem Slum, unter einer Brücke, bei den Armen, den Vergessenen. Und er würde ihnen sagen: Auch für euch gibt es eine Zukunft und eine Hoffnung!

Die Autorin beschäftigt sich mit der Situation von Kindern in Indien.