Erwin Mannhart

«Beim Spritzenbus wollte Brigitte mit mir beten»

Er war betroffen, als die europaweit bekannte, offene Drogenszene auf dem Zürcher Platzspitz vor 20 Jahren geschlossen wurde. Doch Erwin Mannharts Drogensucht wurde nur noch schlimmer. Drei Jahre später wollte eine unbekannte Frau ausgerechnet beim Spritzenbus mit ihm beten. Heute leitet er die Sozialen Dienste der Quellenhof-Stiftung.
Heute will Erwin Mannhart süchtigen Menschen Hoffnung vermitteln.

Woran denken Sie, wenn Sie heute «Platzspitz» hören?
Erwin Mannhart: Ich denke an die Szenen, als ich mir morgens um 2 Uhr jeweils das Kokain besorgt habe. Ich wollte ja nicht erkannt werden und kam deshalb immer nachts. Ich kaufte mein Gift und ging rasch wieder weg. Begonnen hatte meine Suchtkarriere in der Cannabis-Szene auf der Brücke zwischen dem Platzspitz und dem Letten in Zürich.

Wann kamen Sie erstmals mit Drogen in Berührung?

Das war mit gut 17 Jahren. Vorher war gar nichts gelaufen. Im Gegenteil, ich war der Meinung, Drogen könnten nie ein Thema für mich werden. Mit 15 begann ich meine Lehre als Verkäufer, mit 17 schloss ich sie ab. Am gleichen Tag habe ich mich zu Hause in Rapperswil verabschiedet und bin nach Winterthur gezogen. Ich erlebte ein Jahr voller Frust. Ich fand keinen Anschluss, und die hohen Erwartungen mit dem Geldverdienen gingen nicht in Erfüllung. Zurück in Rapperswil, erzählte mir ein alter Kollege ganz locker vom Kiffen. Und da ging es bei ihm zu Hause los. Als ich Probleme mit diesem Kollegen bekam, besorgte ich mir den Stoff halt selber. Ich rauchte bis zu 17 Joints am Tag. Ich lebte ein Doppelleben: Ich arbeitete erfolgreich mit Krawatte als Verkäufer in einem Geschäft für Unterhaltungselektronik und Computer, doch persönlich hatte ich chaotische Zustände.

Was war ausschlaggebend für Ihre Drogenkarriere?
Ich bin grundsätzlich ein Abenteurer. Dazu kam nun die lange Frustzeit. Ich wäre selber wohl nie in die Szene gegangen, um mir Stoff zu besorgen. Doch das Angebot des Kollegen und das Kiffen im privaten, anonymen Rahmen haben die Schwelle zum Einstieg stark herabgesetzt.

Welche Rolle spielte Ihr Elternhaus?
Ich komme aus einer Familie mit sieben Kindern. Wir zogen sehr viel umher. In meiner Kindheit erlebte ich etwa 20 verschiedene Wohnorte. So habe ich nie gelernt, Wurzeln zu schlagen und konstante Beziehungen zu leben. Das zentrale Thema in unserer Familie war immer das Geld - es reichte nie.

War der Glaube ein Thema?
Der Vater erzählte höchstens einmal, seine Eltern hätten verlangt, dass er am Rosenkranzgebet teilnehme. Als Kind hörte ich nur in der Schule etwas von Gott. Doch das wirkte wie Theater auf mich.

Was lösten die Drogen bei Ihnen aus?

Ich versuche es mit einem Bild zu beschreiben. Da war eine Situation, das sich wie ein Loch anfühlte. In meinem Leben war ein grosses Loch. Als ich Drogen konsumierte, hatte ich das Gefühl, dieses Loch sei nicht mehr da. Plötzlich konnte ich Sachen machen, die vorher nicht möglich waren. Ich hatte den Eindruck, nun könne ich etwas Grösseres bewegen.

Wann kamen Sie doch zum Schluss, dass es so nicht weitergehen kann?

Das war 1994, als auch der Letten geschlossen wurde. Da war alles weg: der Job, das Geld, die Wohnung, die Freundin. Nun lebte ich auf der Gasse. Da sprach mich ein Franziskaner an. Er machte mich auf die Entzugsklinik Beth Shalom aufmerksam. Ich trat dort ein, vor allem wegen der Wärme. Ich wog noch 48 Kilo, hatte praktisch keine Zähne mehr. Da erlebte ich erstmals Christen. Doch sie passten mir nicht. Irgendwie gaben sie mir zu denken. Nach einer Woche war ich wieder auf der Gasse. Ich nahm meine letzten Drogen. 14 Tage später war ich wieder im Beth Shalom. Dann begann ein Prozess - ein Wunder. Im Dezember 1995 habe ich menschlich kapituliert. Nach vielen schlaflosen Nächten merkte ich eines Nachts: Jetzt ist etwas in meinem Herzen passiert! Jetzt will ich den Weg mit Jesus gehen. Mit einem Betreuer hatte ich in dieser Nacht ein ernstes Gespräch. Zwischen Fluchen und Beten übergab ich mein Leben in die Hände von Jesus Christus. Ich schöpfte neue Hoffnung. Hubert Hahn und Toni Walter vom Beth Shalom begleiteten mich in dieser Zeit als grosse Vorbilder.

Welches war Ihr Gebet in dieser denkwürdigen Nacht?

Es war ganz einfach in diesem Sinn: «Gott, ich will dich kennenlernen. Ich möchte in eine Beziehung zu dir treten und dich meinen Herrn nennen. Ich will ein neues Leben mit dir beginnen.» Ich habe Jesus aber auch gesagt, dass mir manches leid tut in meinem Leben.

Und die Beziehung mit Gott funktionierte wirklich?
Ich hatte ein eindrückliches Erlebnis. Vom Beth Shalom ging ich in ein katholisches Haus im Wallis. Ich sagte Gott: «Ich habe ein schlechtes Gefühl, wenn ich zu Maria beten soll.» Da hatte ich einen Traum. Im Traum fragte ich Leonhard, den Leiter des Hauses, wie der Himmel aussehe. Er wollte es mir mit einem grossen Quadrat zeigen. Ich aber nahm ein Dreieck und sagte zu ihm: «So sieht der Himmel aus!» Ein glasklarer Traum. Und ich erkannte auch die Bedeutung: Der dreieinige Gott hatte mir seine Realität bewiesen. Die Beziehung zu ihm war da. Ein Schlüsselerlebnis für mich!

Was hat sich mit Jesus verändert?
Ich war emotional wie entlastet. Vorher war alles irgendwie schwer für mich. Ich bekam den Mut, mit diesem Jesus vorwärts zu gehen. Wag es einfach! Es war immer wieder ein Kampf, doch ich war nie allein. Ich kam zum Schluss, dass es gut war, so gedemütigt zu werden. Nur so war ich bereit, Gottes Wege zu erkennen und zu gehen.

Haben Sie nie Angst vor einem späten Absturz?

Ich bin nun seit Ende 1995 weg von der Drogenszene in Zürich. In den ersten Jahren danach gab es schon Alpträume und Ängste, ich würde mir wieder Heroin spritzen. Ich habe gelernt, mit diesen Ängsten umzugehen. Angst ist kein Thema mehr, aber Wachsamkeit. Vor ein paar Jahren habe ich in Oberwinterthur auf dem Bahnhof einen jungen Mann für eine Aufnahme im Beth Shalom abgeholt. Er drückte mir drei Gramm Kokain in die Hand. Er wollte sie nicht mit in den Entzug nehmen. Ich hatte das Gefühl, ich hätte heisse Kohlen in den Händen. Ich habe sie bewusst entsorgt.

Welches ist heute Ihr Traum?

Meine Frau und ich haben eine starke Gemeinsamkeit: Wir wollen Leben teilen, Gastfreundschaft üben. Wir begleiten in der Gemeinde Ehepaare. Wir unterstützen in Sri Lanka ein Projekt in der Suchtarbeit und pflegen Kontakte mit geistlichen Geschwistern in einigen Ländern. Wir wollen das tun, was uns Gott aufs Herz legt. Das ist unser Traum.

Warum sind gerade Sie von den Drogen losgekommen?
Mir kommt ein Wort von Jesus in den Sinn: «Wer Ohren hat, soll hören!» Jeder Mensch wird einmal von Gott angesprochen. Mein allererster Kontakt mit Christen war im Sommer 1995 beim Spritzenbus. Da erzählte mir Brigitte, eine Mitarbeiterin des Busses, von Jesus Christus. Sie sagte, sie wolle für mich beten, was sie dann gleich tat. Damit begann ein roter Faden mit Jesus. Es ist Gnade, dass ich diesen Weg gefunden habe.

Zum Interviewpartner:
Erwin Mannhart, Jahrgang 1966, ist seit 1997 mit Daniela verheiratet, die als ausgebildete Krankenschwester in einem Männerwohnheim arbeitet. Mannhart absolvierte eine Verkaufslehre, schon mit 20 Geschäftsleiter einer Interdiscount-Filiale. Danach folgt ein Studium als Sozialpädagoge. Seit 2000 ist er in der Winterthurer Quellenhof-Stiftung tätig. Die Quellenhof-Stiftung in Winterthur beschäftigt sich seit 1990 mit sucht- und psychisch kranken Menschen. Grundlage dieser christlichen Arbeit ist der diakonische Auftrag, sich für den Mitmenschen zu engagieren.

Lesen Sie das ungekürzte Interview auf Idea Spektrum Schweiz.

Datum: 03.03.2012
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: idea Schweiz

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