Downsyndrom

«Sein Lebenswille ist enorm»

Eine Abtreibung sollte ihn töten. Tim aber überlebte seine eigene Abtreibung. Ohne medizinische Versorgung kämpfte er stundenlang um sein Leben. Erst nach neun Stunden griffen die Ärzte ein. Heute ist Tim sieben Jahre alt und geht in die Schule.
Weil er behindert ist, sollte er sterben. Heute ist Tim sieben Jahre alt (hier mit einer Therapeutin bei der Delphin-Therapie). Foto: Neues Leben
Tims Pflegeeltern, Familie Guido, in der Johannes B. Kerner-Show. Foto: Neues Leben

Simone Guido, Tims Pflegemutter, erzählt von dem Leben mit einem Downsyndrom-Kind, das nie aufgegeben hat, leben zu wollen.

Neues Leben: Tim, Ihr Pflegekind, sollte eigentlich gar nicht leben.
Ja, das ist richtig. Im Grunde sollte sein Geburtstag sein Todestag sein. Wir denken oft daran zurück, wie das alles gekommen ist, wie grausam die Situation für Tim damals im Kreissaal gewesen sein muss und was ihm angetan wurde.

Was wissen Sie über den genauen Verlauf der Abtreibung?

In der 25. Schwangerschaftswoche hatte Tims leibliche Mutter durch eine Fruchtwasseruntersuchung erfahren, dass sie ein Kind mit Trisomie 21 im Leib trug. Gleich nach dieser Diagnose sollten sich die Eltern entscheiden, ob sie das Kind annehmen oder abtreiben möchten. Doch sie waren mit der Situation restlos überfordert und willigten schliesslich in die Spätabtreibung ein. Noch am gleichen Abend leiteten die Ärzte mit einem Medikament die Wehen ein. Man erwartete, dass der Fötus tot zur Welt kommen oder nach kurzer Zeit versterben würde. Doch Tim überlebte seine Abtreibung. Deswegen legte man ihn unversorgt beiseite. So sieht es der gesetzlich vorgesehene Verlauf bei Spätabtreibungen vor. Tim wollte aber nicht sterben. Erst nach neun Stunden erbarmten sich die Ärzte und leiteten lebensrettende Massnahmen ein.

Wussten Sie von seiner Vorgeschichte als Sie sich für Tim als Pflegekind entschieden haben?
Nein, davon wussten wir nicht. Nach dem Anruf vom Jugendamt, dass Pflegeeltern für ein Neugeborenes mit Down-Syndrom gesucht werden, waren wir mit der gesamten Familie zuerst im Krankenhaus. Dort haben wir uns alle Tim angesehen und uns sofort für ihn entschieden. Seine Augen waren einfach unwiderstehlich (lacht). In ihnen war so eine gewisse Hilflosigkeit, zugleich sprühte aber auch purer Lebenswille heraus. Das hat uns bei dem winzigen Mann sehr imponiert. Von Tims Abtreibung haben wir dann erst im Gespräch mit den leiblichen Eltern auf dem Jugendamt erfahren.

Tim hat ihr Leben wohl ziemlich auf den Kopf gestellt.
Die ersten zwei Jahre waren schon sehr schwer. Täglich kam eine Krankenschwester zu uns und versorgte ihn in unserem Haus. Dann hatte Tim oft Probleme mit der Lunge, seinem Magen und dem Katheter, der überschüssiges Gehirnwasser in den Bauch leitete, so dass wir immer wieder ad hoc ins Krankenhaus fahren mussten. Die Schädigungen durch die Abtreibung machten sich halt immer wieder bemerkbar. Er hing oft am seidenen Faden. Es war ein einziges Auf und Ab. Und das wirkte sich natürlich auch auf unsere Ehe und Kinder aus, für die weniger Zeit blieb.

Woraus haben Sie dann neue Kraft geschöpft?
Wenn wir gesehen haben, dass Tim nicht aufgibt. Er hat ohne Ende gekämpft. Immer wieder hat er sich mit Kraft und Lebenswillen hochgezogen. Nie, auch wenn es ihm noch so schlecht ging, hat er aufgegeben.

Und wie geht es ihm heute?
Er hat sich prima entwickelt. Im Grunde haben die Ärzte gar nicht damit gerechnet, dass er sich so weit entwickeln würde. Besonders in den letzten zwei Jahren ist sein Zustand deutlich stabiler geworden. Zwar nimmt er weiterhin weder Essen zu sich, noch trinkt er, sondern wird mittels einer Magensonde ernährt. Aber seit der Delfin-Therapie im letzten Sommer hat er enorme Fortschritte gemacht. Er hat aufgehört, sich gegen den Kopf zu schlagen, weswegen er früher einen Helm tragen musste, und ist jetzt viel wacher und aufmerksamer. Manchmal traut er sich auch zu laufen, wenn man ihn an beiden Händen hält. Im Herbst ist Tim eingeschult worden. Er besucht jetzt eine heilpädagogische Tanz- und Bildungsstätte und lernt dort erste Techniken, um stärker am Leben teilzunehmen.

Durch seine Geschichte steht Tim auch im Mittelpunkt bioethischer Debatten um Spätabtreibungen. Sind Sie darin als Familie involviert?
Sicherlich erwartet man da von uns immer wieder besondere Stellungnahmen, aber das sehen wir nicht als unser primäres Ziel. Unsere Aufgabe ist es, unseren Kindern ein liebevolles Zuhause zu bereiten. Tim bringt soviel Liebe, gute Laune und Freude mit in die Familie, dass wir das niemals wieder eintauschen möchten. Für mich ist es daher überhaupt nicht nachvollziehbar, wieso man solche Menschen abtreibt. Nur weil sich ein Mensch langsamer entwickelt und ein bisschen anders aussieht, ist doch kein Grund. Überhaupt: Wer hat das Recht zu entscheiden, einen Menschen abzutreiben? Und darüber zu urteilen, was lebenswert ist und was nicht?

Spielt da der Gedanke an einen Schöpfer des Lebens für Sie eine Rolle?
Ja, ich denke, unser Leben untersteht dem Willen Gottes. Er ist der Schöpfer und Vollender des Lebens. Er setzt Anfang und Ende. Und wie es kommt, so geschieht es halt und so sollte man es auch akzeptieren – ob ein Leben mit oder ohne behindertes Kind.

Verspüren Sie also Groll gegenüber den Eltern und Ärzten?
Manchmal schon, aber überwiegend empfinde ich doch eher Mitleid, dass das alles so gekommen ist. Mir tut auch Tims Vater Leid, weil er einmal sagte, dass sie Tim ganz normal ausgetragen hätten, wenn sie um all das gewusst hätten und besser aufgeklärt worden wären.

Datum: 10.02.2005
Autor: Stefan Rüth

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